Elara Schatten im Nebel Kapitel 2

Unruhige Stadt

Die Morgendämmerung brachte keine Erleichterung. Stattdessen legte sich ein schwerer Dunst über Berlin, dichter und undurchdringlicher als je zuvor. Der Nebel, der seit Wochen ein bedrückender Begleiter gewesen war, schien nun fast lebendig zu sein. Er kroch durch die Straßen, füllte die engen Gassen und bedeckte die Plätze wie ein schleichendes Ungeheuer. Doch es war nicht nur der Nebel, der die Stadt verändert hatte. Etwas war erwacht. In den obersten Etagen der verfallenen Hochhäuser des alten Finanzviertels saßen die wenigen verbliebenen Mitglieder der einst einflussreichen Oberschicht. Ihre Prunkvillen waren längst verlassen, geplündert oder vom Nebel verschluckt worden. Jetzt zogen sie sich in die Stärke der Höhe zurück, überzeugt, dass die Gefahr unten lauere. Aus den Fenstern beobachteten sie den Nebel, der wie ein unendliches Meer unter ihnen lag. Doch selbst hier oben spürten sie die Unruhe.

Eine alte Frau, einst eine einflussreiche Bankerin, drehte nervös an ihrem goldenen Ring, während ein junger Mann mit zitternden Händen versuchte, das Funkgerät zum Laufen zu bringen. „Hast du etwas gehört?“ fragte sie scharf, ihre Stimme schneidend in der Stille des Raumes. Der Mann schüttelte den Kopf. „Nichts Verwertbares. Nur… Störungen. Etwas ist in der Stadt, aber es kommt nicht aus unseren Kanälen.“ Die Frau wandte sich ab und blickte hinaus. Die Fenster vibrierten leicht, obwohl kein Wind wehte. Sie spürte, dass die Stadt sich verändert hatte. Etwas war aus dem Gleichgewicht geraten. In den untersten Schichten der Gesellschaft, wo die Ruinen von Berlin zu einer improvisierten Gemeinschaft führten, war die Veränderung spürbarer. Der Marktplatz, ein geschäftiger Umschlagplatz für Waren und Geschichten, war wie leergefegt. Die Menschen, die sich sonst in Gruppen zusammendrängten, hatten sich zurückgezogen. Flüstern durchdrang die Mauern der verfallenen Häuser. Gerüchte über eine Kreatur, über Lichter, die durch den Nebel schossen, und über ein erschütterndes Dröhnen, das die Stadt in der Nacht durchzogen hatte, machten die Runde. Ein alter Mann, der als Erzähler bekannt war und oft für ein paar Münzen Geschichten preisgab, wurde von einer kleinen Gruppe bedrängt. „Sag uns, was du weißt, alter Mann! Du kennst die Legenden besser als jeder andere.“ Der Alte schüttelte langsam den Kopf, doch seine Augen waren von einer seltsamen Klarheit. „Legenden sind jetzt keine Geschichten mehr,“ sagte er, seine Stimme tief und brüchig. „Sie sind die Wahrheit. Die Lichter im Nebel? Die Kreaturen, die wir nicht sehen können, aber spüren? Sie sind nur der Anfang. Etwas ist hier, und es will nicht wieder gehen.“ Die Menschen um ihn herum verstummten, und eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm begann zu weinen. Niemand wagte es, die Worte zu bestreiten. In einem heruntergekommenen Herrenhaus, das von einer Gruppe von Wissenschaftlern und Mechanikern genutzt wurde, herrschte hektische Betriebsamkeit.

Diese Gemeinschaft hatte sich den Namen „Die Sucher“ gegeben. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, den Nebel und seine ursprünglichen Geheimnisse zu verstehen. Doch in dieser Nacht waren auch sie aus dem Gleichgewicht geraten. Eine junge Wissenschaftlerin, Clara, rannte durch den Raum und hielt eine vibrierende Metallkugel in den Händen. Sie war nicht die gleiche wie die Kugel, die Rurik untersuchte, doch ihr Verhalten hatte sich in den letzten Stunden plötzlich verändert. „Sieh dir das an,“ rief sie einem älteren Mann zu, der eine komplizierte Apparatur justierte. „Die Frequenzen stimmen nicht mehr. Es ist, als würde sie mit etwas kommunizieren, das wir nicht erfassen können.“ Der Mann nahm ihr die Kugel ab und hielt sie an einen Scanner. Das Gerät gab ein tiefes Summen von sich, bevor es verstummte. „Es gibt keine Erklärung,“ murmelte er. „Aber etwas ist passiert. Die Stadt ist in Resonanz mit einer… fremden Energie. Und ich glaube nicht, dass es nur der Nebel ist.“ Tief unter der Stadt, verborgen in den labyrinthischen Katakomben, in denen die unsichtbare Regierung von Berlin residierte, herrschte hektische Betriebsamkeit. In einem düsteren Saal voller Monitore und summender Apparaturen saßen Männer und Frauen in dunklen Uniformen. Sie beobachteten jeden Quadranten der Stadt, jede Straße, jedes Viertel. Ihre Bildschirme flackerten mit Daten, doch die ungewöhnlichen Aktivitäten der letzten Nacht hatten sogar diese stoischen Wächter aus ihrer Ruhe gebracht. „Bericht! Was wissen wir über den Vorfall?“ Die Stimme des Oberaufsehers war scharf wie ein Messer. Er stand an einem Tisch, seine Augen kalt und fixiert auf einen Untergebenen, der gerade Zahlen und Berichte sammelte. „Sir, es gibt mehrere Berichte über Lichter und ein tiefes Dröhnen im südlichen Sektor,“ antwortete der Mann, während er nervös an einem Tablet herumtippte. „Es scheint, als ob die Energiequellen dort… nun, sie haben sich verändert. Die Muster passen nicht zu irgendetwas, das wir bisher beobachtet haben.“ „Und die Ursache?“ „Unbekannt, Sir. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass es mit der alten Werkstatt im Industrieviertel zusammenhängt. Wir haben Überwachungsdaten, die zeigen, dass dort ungewöhnliche Energiespitzen aufgetreten sind. Vielleicht eine Art Aktivierung.“

Der Oberaufseher legte die Hände auf den Tisch und lehnte sich nach vorne. „Die Werkstatt… ich will, dass wir sie beobachten. Diskret. Wenn jemand dort etwas in Gang gesetzt hat, das unsere Stabilität bedroht, müssen wir es unter Kontrolle bringen.“ Eine Frau in einer anderen Ecke des Raumes, deren Gesicht von den Monitoren schwach beleuchtet wurde, hob den Blick. „Sir, es gibt noch etwas. Der Nebel. Er verhält sich anders. Die Dichte hat zugenommen, und es gibt Berichte von Bürgern über… Formen im Nebel. Wesen, die sie nicht klar sehen können, aber die sich bewegen.“ Die Stille im Raum war drückend. Der Oberaufseher zog eine lange Linie mit dem Finger über die Kante des Tisches. „Schattenwesen… Wenn das wahr ist, haben wir keine Zeit zu verlieren. Schickt ein Team in den südlichen Sektor. Und erhöht die Überwachung. Ich will jeden, der in den letzten 24 Stunden mit der Werkstatt in Verbindung stand.“ Die Stadt war in Aufruhr, und die Menschen, die einst Hoffnung und Widerstand gegen den Nebel gefunden hatten, begannen zu zweifeln. Irgendwo, tief in den Ruinen, schien ein neues Zentrum der Macht zu entstehen. Doch ob diese Macht zu ihrem Schutz oder ihrem Verderben war, wusste niemand. Ein neuer Tag begann, doch die Dunkelheit des Nebels blieb, dichter als je zuvor. Das Dröhnen, das in der Nacht durch die Stadt gehallt hatte, war für die meisten Bewohner ein unerklärliches Phänomen gewesen, doch für einige war es ein Vorbote.

In einem der letzten verbliebenen Radiotürme Berlins, der als Kommunikationszentrum der Untergrundbewegungen genutzt wurde, hatte der Ton eine Welle von Besorgnis ausgelöst. Eine Frau in einem verschlissenen Mantel mit kürzlichem Rauchgeruch über den Schultern kniete vor einem alternden Funkgerät und sprach hektisch in ein Mikrofon. „Der Sektor Vier ist gefährdet. Die Energiefluktuationen in Verbindung mit dem Nebel deuten auf eine Bewegung hin. Wenn wir nicht bald reagieren…“ Die Leitung knackte, und eine verzerrte Stimme antwortete. „Können Sie die Quelle bestimmen?“ Die Frau schüttelte den Kopf, obwohl die andere Seite sie nicht sehen konnte. „Nein. Aber die Frequenzen, sie sind…“ Ihre Stimme brach ab, als das Funkgerät plötzlich still wurde. Ein leises, fast unheimliches Summen füllte den Raum, und die Frau starrte auf die Regler des Geräts, als würde sie versuchen, das Phänomen zu begreifen. Währenddessen versammelten sich die Stadtwächter im alten Regierungsgebäude, das wie eine düstere Bastion inmitten des Nebels thronte. Der Hauptmann der Wächter, ein Mann mit harten Zügen und einem von Narben gezeichneten Gesicht, lehnte sich über einen Kartentisch. Seine Stimme war streng, doch sie zitterte leicht, als er sprach. „Die Patrouillenberichte stimmen überein. Es gab mehrere Sichtungen von… Formen im Nebel. Und das Dröhnen hat offenbar eine Energiequelle aktiviert, die wir nicht identifizieren können. Wir müssen herausfinden, was vor sich geht, bevor die Stadt in Panik verfällt.“ Ein jüngerer Wächter, der kaum älter als zwanzig zu sein schien, räusperte sich. „Hauptmann, die Menschen reden bereits. Sie sagen, der Nebel habe eine Art von… Bewusstsein. Einige behaupten, er sei lebendig.“ Der Hauptmann schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass die Karten darauf erzitterten. „Aberglaube und Angst bringen uns nicht weiter. Wir brauchen Fakten. Verstärkt die Patrouillen und meldet jede Veränderung. Wenn wir die Kontrolle verlieren, ist die Stadt verloren.“ Im Untergrund, wo die Ärmsten der Armen in dunklen Tunneln und Ruinen hausten, breitete sich eine andere Art von Angst aus. Kinder weinten in den Armen ihrer Eltern, während alte Männer und Frauen still vor sich hin murmelten. Eine Gruppe von Flüchtlingen hatte sich um eine kleine Feuerstelle versammelt. Die Flammen warfen flackernde Schatten an die feuchten Wände, und das Flüstern des Nebels schien bis hierher zu reichen. „Es war kein gewöhnliches Geräusch,“ sagte ein Mann mit grauem Haar und eingefallenen Wangen. „Ich habe es gespürt, tief in meinen Knochen. Es war, als hätte der Nebel selbst gesprochen.“ Eine Frau, deren Gesicht von Ruß und Kummer gezeichnet war, schüttelte den Kopf. „Der Nebel spricht nicht. Es sind die Geister derer, die er genommen hat. Sie kehren zurück, um uns zu holen.“ Das Kind an ihrer Seite zog an ihrem Arm. „Mama, ist das wahr? Kommen die Geister?“ Die Frau presste das Kind an sich, unfähig zu antworten, während ein Mann aufstand und in den dunklen Tunnel starrte. „Ob Geister oder nicht, etwas bewegt sich da draußen. Und es wird nicht aufhören.“ Die Schattenwesen, die sich durch den Nebel bewegten, schienen nun zielgerichteter zu agieren. Ihre Bewegungen waren schnell und fließend, und die wenigen, die sie wahrnahmen, berichteten von einem tiefen, vibrierenden Summen, das jede rationale Erklärung sprengte. Die Wächter, die sich in die dichteren Gebiete des Nebels wagten, kamen oft nicht zurück, und diejenigen, die es schafften, sprachen in gebrochenen Sätzen von Augen, die sie beobachtet hatten, und Stimmen, die direkt in ihren Köpfen erklangen.

Ein junger Wächter saß in einem spärlich beleuchteten Raum, seine Hände zitterten, während er versuchte, eine Tasse Tee zu halten. Sein Kamerad saß schweigend neben ihm, doch seine Augen waren leer. „Hast du sie gesehen?“ flüsterte der junge Mann. „Die Augen? Sie waren überall. Sie haben mich… sie haben mich angesehen.“ „Wir hätten nicht dorthin gehen sollen,“ murmelte der andere. „Das war kein Ort für Menschen.“ In den Ruinen des ehemaligen Hauptbahnhofs war ein anderer Kampf entbrannt. Eine Gruppe von Arbeitern hatte beschlossen, die Initiative zu ergreifen. Sie trugen improvisierte Waffen, Stangen und rostige Messer, während sie durch die verlassenen Gänge schlichen. Der Anführer, der groß gewachsene Mann mit der Schaufel, führte sie an, doch selbst er konnte die Unruhe in seinen Augen nicht verbergen. „Wenn wir nichts tun, wird uns dieser Nebel alle verschlingen,“ sagte er. „Wir müssen kämpfen. Selbst wenn wir nicht gewinnen können, dürfen wir nicht einfach zusehen.“ „Was, wenn es nichts zu kämpfen gibt?“ fragte eine Frau leise. Doch ihre Worte wurden von einem plötzlichen Geräusch unterbrochen. Ein Kratzen, gefolgt von einem tiefen, dröhnenden Laut, der die Wände des Bahnhofs zum Beben brachte. Die Gruppe erstarrte, ihre Augen suchten die Schatten. Und dann, aus der Dunkelheit, leuchteten zwei glühende Punkte auf, die wie Augen wirkten. Ein Summen setzte ein, und die Menschen spürten, wie der Boden unter ihnen zu vibrieren begann. Die Stadt war nicht mehr dieselbe. Ihre Bewohner spürten es. Die Luft war schwer von Angst, und jeder wusste, dass etwas auf sie zukam – etwas, das sie nicht verstehen konnten, und das sie vielleicht nicht aufhalten konnten.

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