Elara Schatten im Nebel Kapitel 3

Elaras Pfad

Elara wachte auf, das Gefühl von Kälte hatte sich tief in ihre Knochen gefressen. Der Nebel war noch dichter geworden, und das Licht, das durch die kleinen Fenster der Werkstatt fiel, wirkte matt und fahl. Rurik war bereits auf den Beinen, seine Hände ruhten auf der Kugel, die noch immer auf dem improvisierten Halter auf der Werkbank lag.

Sie sah ihn an, sein Gesicht wirkte müder als je zuvor. „Du hast nicht geschlafen,“ stellte sie fest, ihre Stimme heiser von der Nacht. „Kein Raum für Schlaf,“ murmelte Rurik, ohne den Blick von der Kugel zu nehmen. „Diese Runen… sie sind nicht einfach nur Gravuren. Sie sind eine Sprache, Elara. Eine Sprache, die ich kaum verstehe, aber sie spricht zu mir.“ Elara setzte sich langsam auf, ihre Muskeln protestierten bei jeder Bewegung. Sie erinnerte sich daran, wie sie die Kugel gefunden hatte – in den Überresten eines eingestürzten Hauses nahe der Grenze zum Havelland. Sie war verborgen gewesen, als ob jemand sie vor der Welt verstecken wollte. „Was sagt sie?“ fragte Elara, ihre Stimme leiser als zuvor. Rurik hob eine Augenbraue, bevor er sich zu ihr umdrehte. „Nichts Gutes. Diese Kugel ist mehr als ein Schlüssel oder ein Tor. Sie ist ein Fragment von etwas Größerem. Etwas, das nicht hierher gehört.“ Elara spürte, wie sich ein kalter Schauer über ihren Rücken legte. Sie stand auf, zog ihren Mantel enger um sich und trat an die Werkbank. Die Gravuren auf der Kugel schienen sich bewegt zu haben, als würden sie langsam eine neue Anordnung einnehmen. Es war unheimlich. „Was ist der nächste Schritt?“ fragte sie. Rurik lehnte sich zurück, seine Hand rieb über sein Kinn. „Es gibt alte Aufzeichnungen in der Bibliothek der Sucher, tief im Herzen der Stadt. Dort könnten wir mehr über diese Gravuren erfahren. Aber…“ Er hielt inne, sein Blick schweifte zu den verriegelten Fenstern. „Der Nebel ist nicht mehr derselbe. Es wäre ein riskanter Weg.“ Elara nickte langsam. Sie wusste, dass das Risiko real war. Doch sie hatte nie zurückgeschreckt, wenn es darum ging, Antworten zu finden. Ihre Finger glitten unbewusst über den Griff ihres Dolches. „Ich gehe. Du bleibst hier und arbeitest weiter an der Kugel. Wir können es uns nicht leisten, sie allein zu lassen.“ Rurik musterte sie einen Moment lang, dann nickte widerwillig. „Nimm den alten Tunnel unter der Werkstatt. Er führt dich in die Stadt, direkt zur Bibliothek. Bleib im Schatten und sprich mit niemandem.“ Elara zog ihren Mantel enger und packte einige Vorräte in eine kleine Tasche. Rurik übergab ihr eine Karte, grob gezeichnet, aber funktional. „Wenn du auf Schwierigkeiten triffst, wende dich an die Sucher. Lyra ist dort. Sie kennt die alten Texte und wird dir helfen können.“ Sie warf ihm einen letzten Blick zu, bevor sie die Falltür zur Seite schob und die Treppe hinunterstieg.

Der Tunnel war feucht und dunkel, der Geruch von Erde und altem Metall füllte die Luft. Doch sie zögerte nicht. Ihre Schritte hallten leise wider, während sie sich tiefer in das labyrinthartige System wagte. Im Halbdunkel der Tunnel spürte Elara ihre Gedanken schwerer werden. Die Dunkelheit drängte sich von allen Seiten auf sie, und das monotone Echo ihrer Schritte bot keine wirkliche Beruhigung. Sie dachte an die Kugel, an die Gravuren, die so fremd und gleichzeitig bedeutungsvoll wirkten. Was, wenn sie etwas geweckt hatte, das besser verborgen geblieben wäre? Was, wenn sie den Nebel selbst heraufbeschworen hatte, ohne es zu wissen? Ihr Griff um die Karte wurde fester. Sie musste sich auf die Aufgabe konzentrieren, aber eine Frage bohrte sich wie ein Dorn in ihren Verstand: War sie wirklich bereit für das, was sie zu entdecken hoffte? Der Nebel und die Schattenwesen, die sie in den Ruinen beobachtet hatte, waren keine Einbildung. Sie wusste, dass es Dinge gab, die die menschliche Vorstellungskraft überstiegen. Doch warum fühlte sie sich, als würde ihr Schicksal sie unausweichlich zu diesen Antworten drängen? Ihre Schritte verlangsamten sich, als ein anderer Gedanke in ihr aufstieg. Was, wenn sie die Antworten fand und sie die falschen waren? Sie atmete tief ein, zwang sich, die Furcht beiseitezuschieben, und griff nach dem Dolch an ihrer Seite. Der Griff fühlte sich vertraut und beruhigend an, ein greifbarer Schutz in der Ungewissheit. Ein leises Tropfen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es kam irgendwo vor ihr aus der Dunkelheit, rhythmisch, fast beruhigend, doch auch beunruhigend, weil es das erste Geräusch war, das nicht von ihr selbst stammte. Sie blieb stehen, lauschte. Nichts weiter, nur das Tropfen. „Reiß dich zusammen,“ murmelte sie zu sich selbst, ihre Stimme kaum lauter als ein Hauch. Doch die Frage, ob sie wirklich allein war, blieb in ihrem Kopf hängen, während sie ihren Weg fortsetzte. In den Straßen Berlins hatte sich der Nebel zu einem dichten Mantel verdichtet, der alles verschlang. Ein Wächter namens Alrik, ein Veteran mit grimmigem Gesicht, führte seine Patrouille durch das Viertel nahe der alten Bibliothek. Er wusste, dass dieser Teil der Stadt besonders anfällig für das Unerklärliche war. „Haltet die Augen offen,“ sagte er leise, während er seine Laterne schwenkte. Das Licht brach sich in den silbrigen Strähnen des Nebels, konnte ihn aber nicht durchdringen. Seine Kameraden, drei jüngere Wächter, folgten ihm. Einer von ihnen, ein blasser Junge namens Torben, trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Was genau suchen wir hier?“ fragte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Es ist nicht das, was wir suchen,“ erwiderte Alrik düster. „Es ist das, was uns finden könnte.“ Plötzlich ertönte ein leises Summen, tief und unheilvoll. Die Wächter blieben wie angewurzelt stehen, ihre Augen suchten die Dunkelheit. Das Geräusch wurde lauter, bis es in den Köpfen der Männer widerhallte. Dann, aus dem Nebel, schälte sich eine verzerrte Silhouette. Sie bewegte sich nicht wie ein Mensch, sondern wie etwas, das die Form eines Menschen nachahmte. „Zurück! Licht auf das Ding!“ rief Alrik, seine Stimme scharf und energisch. Die Wächter hoben ihre Laternen, doch das Licht prallte von der Gestalt ab, als ob sie in einen bodenlosen Abgrund scheinen würden. Das Summen verstärkte sich, und ein kühler Wind wehte durch die Straßen. „Das ist kein Mensch,“ flüsterte Torben, seine Hand zitterte an der Laterne. „Waffe ziehen!“ befahl Alrik. Doch bevor jemand reagieren konnte, verschwand die Gestalt im Nebel, als wäre sie nie da gewesen. Nur das Summen blieb zurück, vibrierend und verstörend. „Zur Bibliothek,“ sagte Alrik, seine Stimme knapp. „Das Ding bewegt sich dorthin. Und wenn es die Sucher erreicht, könnten wir alle verloren sein.“

Als der Tunnel sich endlich öffnete, konnte Elara die stickige Luft des Nebels spüren, die in die Gänge kroch wie ein hungriges Tier. Der Ausgang lag vor ihr, eine rostige Metalltür, die halb offen stand. Sie hielt inne und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Draußen war keine Bewegung zu erkennen, nur das allgegenwärtige, milchige Weiß des Nebels. Sie drückte die Tür vorsichtig auf und trat ins Freie. Der Nebel umhüllte sie sofort, kühl und dicht. Die Geräusche der Stadt waren gedämpft, fast unwirklich, als ob sie durch eine dicke Decke drangen. Sie zog ihre Karte hervor und orientierte sich. Die Bibliothek war nicht weit entfernt, doch der Weg würde sie durch ein verlassenes Viertel führen, das sie immer gemieden hatte. Plötzlich spürte sie eine Bewegung. Es war kein Geräusch, eher ein Gefühl, das ihren Nacken prickeln ließ. Sie wirbelte herum, den Dolch erhoben, doch da war nichts. Der Nebel blieb still und unbewegt. Sie atmete tief durch und zwang sich, weiterzugehen. Doch mit jedem Schritt hatte sie das Gefühl, dass etwas sie beobachtete. Etwas, das darauf wartete, dass sie unvorsichtig wurde. Die Bibliothek lag still vor ihr, ein massives Gebäude, dessen Fassaden von der Zeit gezeichnet waren. Sie schlich zur Eingangstür, zog daran, und das alte Holz gab mit einem klagenden Knarren nach. Drinnen war es dunkel, und der Geruch von Staub und alten Büchern schlug ihr entgegen. Sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und tastete sich vorsichtig voran. Ein schwaches Licht schimmerte aus einem der hinteren Räume. Elara zog den Dolch und schlich näher. Das Licht wurde stärker, und schließlich konnte sie Stimmen hören. Sie klangen gedämpft, aber nicht feindselig. Sie schob die Tür auf und sah eine Frau, die über ein altes Buch gebeugt war. Sie hielt eine Laterne, deren warmes Licht das Gesicht der Frau erhellte. „Lyra?“ fragte Elara vorsichtig. Die Frau blickte auf und runzelte die Stirn, bevor ihr Gesicht sich entspannte. „Elara? Was machst du hier?“ „Ich brauche deine Hilfe,“ sagte Elara schnell. „Es geht um eine Kugel. Etwas, das ich gefunden habe. Etwas, das mit dem Nebel verbunden ist.“ Lyras Augen weiteten sich, und sie nickte langsam. „Dann komm schnell. Wir haben nicht viel Zeit. Es gibt Dinge, die wir besprechen müssen, bevor es zu spät ist.“ Als Elara die Tür hinter sich schloss, spürte sie, wie die Stille des Raumes sie umhüllte. Lyra führte sie zu einem schweren Tisch, der mit Büchern und Pergamentrollen bedeckt war. Einige der Texte waren in Sprachen geschrieben, die Elara nicht kannte, während andere Seiten mit Symbolen bedeckt waren, die den Gravuren auf der Kugel ähnelten. Lyra seufzte leise, bevor sie sprach. „Du hast etwas gebracht, das nicht nur unsere Welt, sondern alles, was wir kennen, beeinflussen könnte.“ Ihre Augen ruhten kurz auf Elara, bevor sie zu einem der Bücher glitten. „Was genau weißt du über diese Kugel?“ Elara setzte sich auf einen der wackeligen Stühle und zog ihre Kapuze zurück. „Nicht viel. Ich fand sie in einem eingestürzten Haus, verborgen unter einer alten Bodenplatte. Die Gravuren haben sich seitdem verändert, fast so, als ob sie… lebendig wären. Rurik hat gesagt, dass sie ein Fragment ist, aber er konnte nicht genau sagen, von was.“ Lyra nickte langsam und zog ein Buch näher zu sich. „Das deckt sich mit einigen der Legenden, die ich gelesen habe. Es gibt Geschichten über uralte Siegel, die unsere Welt vor anderen Welten schützen sollen. Wenn deine Kugel wirklich ein Fragment eines solchen Siegels ist, dann könnte sie der Schlüssel sein… oder die Gefahr selbst.“ Elara lehnte sich zurück und spürte, wie die Schwere der Worte auf ihr lastete. „Kannst du herausfinden, wozu sie dient?“ Lyra blätterte durch die Seiten des Buches, bis sie bei einer Illustration anhielt. Die Zeichnung zeigte eine Kugel, umgeben von einem Netz aus Licht und Schatten, und im Hintergrund war eine verzerrte Gestalt angedeutet. „Das hier ist das Einzige, was ich finden konnte. Es beschreibt ein Artefakt, das als ‘Nebelstein’ bekannt ist. Laut der Legende kontrolliert es die Barrieren zwischen den Welten.“ Elara runzelte die Stirn. „Aber warum jetzt? Warum taucht es gerade jetzt auf?“

Bevor Lyra antworten konnte, erklang ein dumpfes Dröhnen aus der Ferne. Es war leise, kaum wahrnehmbar, aber es ließ beide Frauen erstarren. Lyra hob ihre Laterne und bewegte sich zur Tür. „Das kommt nicht von draußen…“ flüsterte sie. Elara zog ihren Dolch und folgte Lyra. Das Geräusch schien aus den unteren Ebenen der Bibliothek zu kommen. Die Stufen, die in den Keller führten, waren dunkel und feucht, und der Geruch von altem Papier wich allmählich einem erdigen Moder. „Hier unten lagern wir die ältesten Texte,“ erklärte Lyra leise, ihre Stimme zitterte leicht. „Aber niemand geht freiwillig hinunter. Es gibt… Geschichten.“ „Welche Geschichten?“ fragte Elara, ihre Stimme angespannt. Lyra hielt inne und sah sie an. „Man sagt, dass der Nebel hier unten zuerst zu sprechen begann. Vor Jahrzehnten. Es waren nur Flüstern, kaum mehr als ein Hauch, aber die Menschen, die sie hörten… sie kehrten verändert zurück. Oder gar nicht.“ Ein kalter Schauer lief Elara über den Rücken, doch sie nickte und bedeutete Lyra weiterzugehen. Als sie die letzten Stufen erreichten, öffnete sich der Raum vor ihnen. Es war ein Archiv, die Wände mit Regalen gesäumt, die bis zur Decke reichten. Einige Regale waren umgestürzt, und verstreute Bücher bedeckten den Boden. Doch in der Mitte des Raumes war etwas anderes. Ein schwaches Licht pulsierte, schwebte knapp über dem Boden und schien sich mit jedem Puls auszudehnen. Das Dröhnen wurde lauter, je näher sie kamen. Lyra hielt die Laterne hoch, ihr Licht reichte jedoch nicht aus, um das seltsame Leuchten zu verdrängen. „Das ist neu,“ flüsterte Lyra. „Das war vorher nicht hier.“ Elara trat vor, ihr Dolch fest in der Hand. Sie konnte spüren, wie etwas von dem Licht ausging, etwas, das nicht von dieser Welt war. Und dann, plötzlich, sprach es. Nicht laut, sondern direkt in ihrem Kopf. „Das Siegel bricht.“ Die Worte waren klar und doch unendlich fremd. Elara spürte, wie ihre Hand zu zittern begann, doch sie hielt den Dolch fest. „Lyra, wir müssen herausfinden, was das ist. Und wir müssen es schnell tun.“ Lyra nickte, doch ihr Gesicht war aschfahl. „Wenn das wirklich das Siegel ist, von dem die Legenden sprechen, dann haben wir nicht viel Zeit.“ Das Dröhnen schwoll an, und das Licht begann sich zu bewegen, als würde es etwas in der Dunkelheit suchen. Elara wusste, dass sie Antworten finden mussten, bevor es zu spät war. Das Licht begann unregelmäßig zu flackern, wie ein unstetes Herz, das sich mit jedem Schlag neu formte. Der Raum schien sich zu verändern, als ob die Mauern der Realität selbst nicht standhalten konnten. Schatten tanzten an den Regalen, doch sie waren nicht von der Laterne geworfen. Es waren Silhouetten, die aus dem Licht geboren wurden, verzerrt und unnatürlich. Elara spürte, wie sich der Griff ihres Dolches in ihrer Hand verhärtete. Die Worte, die sie zuvor in ihrem Kopf gehört hatte, hallten weiter in ihrem Geist nach, als wären sie dort verankert. „Das Siegel bricht.“ „Lyra,“ begann sie leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern, „wir müssen wissen, ob es einen Weg gibt, das Siegel zu stabilisieren.“ Lyra, die sich noch immer auf das Licht starrend kaum bewegte, riss sich zusammen und begann hektisch in einer der offenen Bücherstapel auf dem Tisch zu blättern. „Es gibt Geschichten von Ritualen, von Schutzzaubern, die für einen Moment Barrieren verstärken können… aber ich weiß nicht, ob sie in diesem Fall funktionieren.“ Elara trat näher an das Licht heran. Mit jedem Schritt schien es sie zu mustern, sich auf sie zuzubewegen, obwohl es gleichzeitig zurückwich, als ob es ihre Präsenz spürte und sich dennoch nicht entscheiden konnte, ob es sie willkommen heißen oder abwehren sollte. Sie hielt inne, als ein tiefes Grollen den Raum durchfuhr. „Es weiß, dass wir hier sind,“ flüsterte Lyra, ihre Finger zitterten, als sie versuchte, einen Text zu entziffern. „Das Licht… es könnte ein Portal sein, Elara. Ein Fenster zu dem, was kommt. Aber ich habe Angst, dass, wenn wir zu lange hier bleiben, wir es öffnen.“ Elara nickte und spürte, wie sich die Spannung in ihrem Körper noch weiter zuspitzte. „Wir haben keine Wahl. Wenn wir weglaufen, könnte es das Siegel komplett zerbrechen.“ Das Licht flackerte ein letztes Mal, bevor es abrupt still wurde. Der Raum war in ein fast vollständiges Schweigen gehüllt, nur unterbrochen von einem tiefen, widerhallenden Summen, das in Elaras Brust vibrierte. Und dann kam die Stimme zurück.

„Es ist Zeit.“

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