Elara Schatten im Nebel Kapitel 4

Stimmen aus dem Untergrund

Die Welt oberhalb der Erde schien noch immer in einer seltsamen Starre zu verharren, während in den Tiefen Berlins das Herz der Untergrundbewegung schlug. Verborgene Tunnelsysteme und alte Bunker, die einst Zuflucht vor Bombenangriffen boten, waren nun der Sammelpunkt für jene, die sich den Phänomenen des Nebels zu widersetzen suchten. In einem der größeren Räume, dessen Wände von Feuchtigkeit glänzten und an dem der Geruch von Erde und altem Metall hing, hatte sich eine Gruppe aus etwa einem Dutzend Personen versammelt. Flackernde Gaslampen tauchten die Gesichter in ein unstetes Licht, das die Anspannung in den Augen der Anwesenden noch deutlicher machte.

Viktor, ein Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und grauem Haar, stand in der Mitte. Seine Haltung war angespannt, doch seine Stimme blieb ruhig und kontrolliert. „Das Ereignis gestern Nacht hat die Stadt erschüttert. Es war nicht nur das Dröhnen, das ihr alle gehört habt. Unsere Messgeräte haben etwas aufgezeichnet, das wir noch nie zuvor gesehen haben.“ Marta, eine Frau mit einem abgetragenen Ledermantel, verschränkte die Arme. Ihr Gesicht war von Ruß gezeichnet, ihre Augen funkelten vor Unmut. „Und was bedeutet das, Viktor? Werden wir endlich handeln, oder sitzen wir weiter in diesen Löchern und starren auf Diagramme?“ „Das Dröhnen hat eine Quelle“, erwiderte Viktor und begegnete ihrem Blick mit kühler Bestimmtheit. „Und es steht in Verbindung mit den alten Siegeln. Doch wir können nicht blind handeln. Wenn wir einen Fehler machen, riskieren wir, genau das zu entfesseln, was wir zu verhindern versuchen. Ein junger Mann, Tobias, dessen blasses Gesicht von einem wilden Blick geprägt war, trat vor. „Ich war gestern in Sektor Sieben. Der Nebel… er hat sich verändert. Es fühlt sich an, als ob er lebt. Und ich glaube, er hat uns gesehen.“ Ein Flüstern ging durch die Gruppe, ein Gemisch aus Furcht und Unglauben. Nur das Tropfen von Wasser aus einer entfernten Ecke durchbrach die Stille, die auf Tobias’ Worte folgte. Viktor verschränkte die Hände hinter dem Rücken und nickte langsam. „Das haben wir bemerkt. Die Frage ist: Wie eng ist er mit den Artefakten verbunden? Und warum jetzt?“ In der hinteren Reihe hob eine schmale Frau ihre Hand. Ihre Augen, dunkel und scharf wie Messerklingen, fixierten Viktor. „Es gab Berichte über etwas Ähnliches vor Jahrzehnten“, begann sie mit leiser Stimme. „Im Archiv des alten Bahnhofs gibt es Aufzeichnungen über einen Vorfall, der fast identisch war. Die Menschen sprachen von Schattenwesen, von einem Licht, das die Dunkelheit schnitt, und von einem Siegel, das beinahe gebrochen wurde.“ Viktors Miene verhärtete sich. „Du sprichst von der Nacht des ersten Nebels.“ Die Frau nickte. „Damals wurde das Siegel stabilisiert. Irgendjemand hat die Barrieren wiederhergestellt. Wenn wir herausfinden können, wie sie es getan haben…“ Ein Raunen ging durch die Gruppe. Der Name jener Nacht war ein unausgesprochenes Tabu, ein Symbol für alles, was den Nebel umgab. Es war die Nacht, die die Welt verändert hatte. Marta war die erste, die das Schweigen durchbrach. Ihre Stimme, rau und fordernd, zerriss die Stille. „Und was, wenn wir es nicht herausfinden? Warten wir dann, bis der Nebel uns alle verschlingt?“ Ihre Augen glitten zu Tobias, der sich sichtbar unwohl fühlte. „Wenn der Nebel uns sieht“, flüsterte Tobias, „warum sind wir dann noch am Leben?“ „Weil wir noch nützlich sind“, murmelte Marta mit einem Hauch von Spott. „Oder weil er spielt.“

Ein älterer Mann mit dicken Brillengläsern, Gerhardt, hob den Kopf. In seiner Hand hielt er ein Notizbuch, dessen Seiten voller hastiger Aufzeichnungen waren. „Das ist kein Spiel. Der Nebel sucht. Er testet die Grenzen. Vielleicht sucht er nicht nur einen Weg durch die Barriere, sondern auch eine Schwäche in uns.“ Das Gespräch ebbte ab, als ein plötzliches Summen durch die Tunnel rollte. Es war leise, aber es schien die Luft selbst vibrieren zu lassen. Die Lampen an den Wänden flackerten, und ein Schatten huschte über die Wand, zu schnell, um ihn wirklich zu sehen, aber gerade langsam genug, um die Anwesenden zu alarmieren. Viktor hob die Hand, um Ruhe zu gebieten. „Wir müssen uns bewegen“, sagte er knapp. „Der Nebel wird nicht warten. Wir brauchen Antworten, und wir brauchen sie schnell.“ Doch gerade als die Gruppe aufbrechen wollte, rief Marta: „Moment!“ Ihre Hand zog ein altes Pergament aus einer Tasche, die an der Wand hing. Ihre Augen verengten sich, als sie die Symbole darauf betrachtete. Sie hielt es Gerhardt hin, der es sofort mit zittrigen Fingern entfaltete. „Das sind die gleichen Zeichen wie auf den Wänden der Krypta“, sagte er langsam, während er über das Pergament strich. „Aber das hier… sieht aus wie eine Anleitung.“ „Eine Anleitung für was?“ fragte Tobias nervös. Gerhardt blickte auf, seine Augen leuchteten hinter den Gläsern. „Für das Ritual. Aber… es ist unvollständig.“ Die Spannung wuchs, als Viktor das Pergament übernahm und es studierte. „Das könnte unser Schlüssel sein. Doch wir müssen herausfinden, was fehlt. Und zwar, bevor der Nebel uns die Wahl nimmt.“ Er wandte sich an die Gruppe. „Wir gehen tiefer. Die Antworten sind dort, wo alles begann. Und vielleicht… wartet dort auch unser Ende.“ Die Entscheidung, tiefer in das Tunnelsystem einzudringen, fiel schnell, doch die Unruhe in der Gruppe war greifbar.

Die Luft schien schwerer zu werden, als sie sich in Bewegung setzten. Marta führte die Gruppe an, ihre Laterne warf unstete Schatten an die feuchten Wände. Tobias hielt sich dicht hinter ihr, sein Atem ging flach und seine Augen huschten nervös von einer Ecke zur nächsten. Gerhardt hatte das Pergament fest an die Brust gedrückt, als ob er befürchtete, es könnte ihm entrissen werden. Seine Gedanken rasten, während er versuchte, die unvollständigen Anweisungen auf dem Dokument zu entschlüsseln. Neben ihm lief Viktor, dessen Gesicht einen Ausdruck eiserner Entschlossenheit trug, obwohl auch er die wachsende Bedrohung spürte. Das Summen, das zuvor nur ein ferner Klang gewesen war, wurde mit jedem Schritt lauter. Es schien die Umgebung zu durchdringen, ein eigenartiger Rhythmus, der wie ein Herzschlag pulsierte. Es war Tobias, der zuerst etwas Ungewöhnliches bemerkte. Er blieb abrupt stehen und starrte auf eine Stelle an der Wand. „Seht ihr das?“ flüsterte er. Marta drehte sich zu ihm um, ihre Laterne hob sich und enthüllte, was Tobias gesehen hatte. Eine Reihe von Symbolen, ähnlich denen auf dem Pergament, war in die Wand geritzt. Sie leuchteten schwach, ein pulsierendes Licht, das in einem unheimlichen Einklang mit dem Summen schien. „Das ist kein Zufall“, sagte Gerhardt und trat näher. Seine Finger strichen vorsichtig über die Gravuren. „Diese Zeichen… sie scheinen aktiv zu werden, je näher wir der Quelle kommen.“ „Was, wenn wir sie aktivieren?“ schlug Marta vor, ihre Stimme war scharf, doch in ihren Augen flackerte Unsicherheit. „Vielleicht öffnen sie eine Art Zugang.“ Gerhardt schüttelte den Kopf. „Wir wissen nicht, was sie tun. Ohne die vollständigen Anweisungen könnten wir das Siegel schwächen anstatt es zu stabilisieren.“ Viktor hob die Hand, um weitere Diskussionen zu unterbinden. „Wir können das jetzt nicht riskieren. Bewegt euch weiter, aber merkt euch den Ort. Wenn wir später zurückkommen müssen, wissen wir, wo wir suchen.“

Die Gruppe setzte ihren Weg fort, das Summen und die flackernden Zeichen begleiteten sie wie stumme Wächter. Der Tunnel weitete sich schließlich zu einer großen Kammer, deren Wände von seltsamen Kristallen durchzogen waren. Diese Kristalle leuchteten in einem kalten, bläulichen Licht, das die Kammer in ein surreales Schimmern tauchte. Tobias hielt den Atem an. „Es fühlt sich an, als ob… als ob hier etwas auf uns wartet.“ Marta trat vor, ihre Hand um den Griff ihres Messers gelegt. „Was auch immer es ist, wir müssen es herausfinden.“ Doch bevor sie weiterging, erklang ein lautes Knacken, gefolgt von einem tiefen Grollen. Der Boden vibrierte unter ihren Füßen, und aus den Schatten der Kammer trat eine Gestalt hervor. Es war humanoid, doch seine Proportionen waren falsch. Die Gliedmaßen waren zu lang, der Kopf war schmal und gesichtslos, als ob es aus dem Nebel selbst geformt worden wäre. Es bewegte sich ruckartig, doch zielgerichtet, und in seiner Präsenz lag eine überwältigende Kälte. „Zurück!“ rief Viktor und zog eine Waffe, die mehr wie ein improvisiertes Gerät aussah. „Haltet euch hinter mir!“ Das Wesen verharrte, als ob es die Gruppe musterte, doch das Summen wurde lauter, vibrierender, bis es wie ein Druck in ihren Köpfen fühlbar war. Tobias sackte auf die Knie und hielt sich die Ohren zu. „Es ist in meinem Kopf! Es spricht!“ Marta packte ihn und zog ihn zurück, während Viktor das Gerät aktivierte. Ein grelles Licht durchflutete die Kammer, und für einen Moment schien das Wesen zurückzuweichen. Doch dann veränderte es seine Form, zog sich zusammen, nur um in einer neuen, noch bedrohlicheren Gestalt zu erscheinen. Gerhardt murmelte etwas vor sich hin, seine Augen starrten auf das Pergament. „Die Zeichen… vielleicht können wir sie hier nutzen.“ „Was meinst du?“ rief Marta, während sie versuchte, Tobias wieder auf die Beine zu ziehen. „Die Symbole an der Wand. Sie könnten ein Schutzmechanismus sein. Aber wir müssen sie aktivieren, bevor dieses Ding uns erreicht!“ Viktor nickte knapp. „Geht zurück zu den Zeichen. Ich halte es auf, so lange ich kann.“ Marta zögerte, doch sie packte Gerhardt am Arm und zog ihn mit sich. Tobias stolperte hinterher, während Viktor allein in der Kammer blieb, die Waffe in der Hand, sein Blick auf das Wesen gerichtet. „Komm schon“, murmelte er. „Zeig mir, was du kannst.“

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