Elara Schatten im Nebel Kapitel 5

Elaras Rückkehr

Das Licht der Bibliothek schimmerte durch die schmalen Gänge, doch Elara konnte sich nicht entspannen. Die Worte des Nebels hallten noch immer in ihrem Kopf. „Das Siegel bricht.“ Sie wusste, dass jede Sekunde zählte. Lyra hatte ihr noch ein paar letzte Hinweise gegeben, bevor sie die unterirdischen Tunnel Richtung Werkstatt verlassen hatte. Doch die Unruhe ließ nicht nach. Der Weg durch die Tunnelsysteme war bedrückend still. Selbst die gewohnte Feuchtigkeit und das Tropfen des Wassers wirkten jetzt bedrohlich.

Jeder Schritt von Elaras Stiefeln hallte wie ein Trommelschlag wider, und ihr Herz schlug in unruhigem Takt. Die Karte, die sie von Rurik erhalten hatte, war mittlerweile ein vertrauter Begleiter geworden. Sie führte sie durch die labyrinthartigen Gänge, doch etwas fühlte sich anders an. Der Nebel war präsenter, selbst hier unten, wo er normalerweise nicht so dicht vordrang. Plötzlich hielt Elara inne. Ein Knistern durchbrach die Stille, als ob etwas durch die alten Leitungen der Tunnel glitt. Ihre Hand wanderte instinktiv zu ihrem Dolch. Sie drehte sich langsam um, ihre Augen suchten die Dunkelheit. „Wer ist da?“ Ihre Stimme war ruhig, aber bestimmt. Keine Antwort. Nur das Echo ihrer Worte, das sich in der Ferne verlor. Doch das Knistern blieb. Es war kein natürliches Geräusch. Es erinnerte sie an das Pulsieren der Kugel in Ruriks Werkstatt. Sie nahm ihren Mut zusammen und setzte ihren Weg fort, die Karte fest in der einen Hand, den Dolch in der anderen. Doch die Gedanken ließen ihr keine Ruhe. War das Siegel wirklich so nahe am Zerbrechen, wie Lyra vermutet hatte? Und was würde passieren, wenn es tatsächlich brach? Als Elara schließlich die Treppe zur Werkstatt hinaufstieg, bemerkte sie, dass die Luft schwerer war als zuvor. Der Nebel drang durch jede Ritze, schien beinahe greifbar. Sie drückte die schwere Metalltür auf, die knarrend ihren Weg freigab. Im Inneren der Werkstatt war es dunkel, nur das schwache Glühen der Kugel auf der Werkbank spendete etwas Licht. „Rurik?“ rief sie, doch keine Antwort kam.

Die Werkstatt wirkte verlassen, doch sie wusste, dass Rurik niemals einfach so gehen würde, besonders nicht, solange die Kugel hier war. Elara trat näher und sah, dass die Gravuren auf der Kugel sich wieder verändert hatten. Sie leuchteten jetzt in einem unruhigen Rhythmus, als ob sie auf etwas reagierten. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie musterte die Werkstatt genauer. Werkzeuge lagen verstreut, als ob sie hastig fallen gelassen worden waren. Auf der Werkbank lag ein Notizbuch, Ruriks unverkennbarer Stil auf den Seiten. Elara griff danach und begann, durch die Einträge zu blättern. „Die Gravuren… sie scheinen mit den Energieströmen des Nebels verbunden zu sein,“ las sie leise vor. „Das Siegel ist nicht nur ein Tor, sondern ein Fokuspunkt. Es zieht die fremdartigen Energien an, um sie zu kanalisieren. Wenn es bricht, wird die Barriere nicht nur geschwächt, sondern der Weg wird geöffnet.“ Ihre Finger zitterten, als sie die Seite umblätterte. „Ich habe Versuche unternommen, das Leuchten der Gravuren zu stabilisieren. Doch jede Intervention scheint sie weiter zu destabilisieren. Es ist, als ob das Artefakt gegen meine Bemühungen arbeitet. Was immer ich tue, scheint es näher an den Punkt des Zusammenbruchs zu bringen.“ Ein Klirren hinter ihr riss Elara aus ihren Gedanken. Sie wirbelte herum, den Dolch erhoben. Doch nichts war zu sehen. Der Nebel hatte sich weiter in die Werkstatt gedrückt, füllte die Ecken wie eine lebendige Masse. „Rurik?“ rief sie erneut, diesmal lauter. Doch wieder keine Antwort. Stattdessen bewegte sich etwas im Nebel. Ein Schatten, schwer greifbar, aber eindeutig da. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, doch sie hielt den Dolch fest umklammert. „Zeig dich!“ Ihre Stimme hallte durch den Raum, doch was auch immer sich im Nebel bewegte, blieb stumm. Stattdessen wurde das Knistern lauter, und die Kugel begann, intensiver zu leuchten. Das Licht schien den Raum zu verzerren, Schatten tanzten an den Wänden in unnatürlichen Formen. Elara wusste, dass sie handeln musste. Sie trat näher an die Werkbank heran, ihre Augen fest auf die Kugel gerichtet. Was immer hier geschah, es war mit dem Artefakt verbunden. Ihre Finger zögerten kurz, bevor sie die Kugel berührten. Das kalte Metall pulsierte unter ihrer Hand, als ob es lebendig war. In diesem Moment wurde der Raum von einem tiefen, vibrierenden Ton erfüllt, der ihren ganzen Körper erschütterte. Die Kugel begann zu glühen, heller und heller, bis das Licht sie zwang, die Augen zu schließen. Und dann war da eine Stimme. Nicht wie die Flüsterstimmen des Nebels, sondern klar und durchdringend. „Du bist zu spät.“

Elaras Augen schossen auf, doch sie sah nichts als das blendende Licht der Kugel. Die Gravuren bewegten sich jetzt schneller, formten Muster, die sie nicht verstehen konnte. Ein Schrei drang durch die Werkstatt – ob von ihr oder etwas anderem, konnte sie nicht sagen. Und dann… Stille. Elara lag am Boden, das Herz hämmerte in ihrer Brust. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, dass das Licht der Kugel erloschen war. Die Werkstatt war in Dunkelheit getaucht, nur das schwache Glimmen der Gaslampen in der Ecke bot Orientierung. Sie richtete sich auf und tastete nach ihrem Dolch, der aus ihrer Hand gerutscht war. Doch etwas war anders. Die Luft schien dicker, schwerer, als ob sie nicht nur atmete, sondern etwas Fremdartiges durch ihre Lungen strömte. Der Nebel hatte sich verdichtet, war jetzt keine bloße Erscheinung mehr, sondern eine greifbare Kraft. Plötzlich erklang ein leises Flüstern, direkt hinter ihr. Elara drehte sich abrupt um, den Dolch vor sich, doch da war niemand. Stattdessen begann der Schatten an der Wand, sich zu bewegen, zu wachsen. Eine Gestalt formte sich, nicht ganz menschlich, mit unnatürlich langen Gliedern und einer vagen, gesichtslosen Kontur. „Wer bist du?“ fragte Elara, ihre Stimme zitterte leicht. Die Gestalt bewegte sich nicht, doch das Flüstern wurde lauter, formte unzusammenhängende Worte. Es dauerte einen Moment, bis sie erkannte, dass es nicht nur eine Stimme war, sondern viele. Alle sprachen durcheinander, ein Chor aus Furcht und Wut. „Das Siegel… es wird fallen,“ flüsterte eine der Stimmen klarer als die anderen. „Du kannst es nicht aufhalten.“ Elara spürte, wie sich die Kälte in ihren Körper fraß, doch sie klammerte sich an ihren Mut. „Was bist du? Was willst du?“ Die Gestalt löste sich auf, verschwand im Nebel, doch das Flüstern blieb. Und dann, plötzlich, eine Bewegung an der Werkbank. Elara wirbelte herum und sah, wie sich die Kugel wieder zu regen begann, ihre Gravuren erneut glühten. Doch dieses Mal war etwas anders. Ein kleiner Riss zog sich über ihre Oberfläche, aus dem ein feines, schimmerndes Licht sickerte. „Nein… nicht jetzt,“ murmelte Elara und griff nach dem Artefakt. Doch in dem Moment, als ihre Finger es berührten, spürte sie eine Welle von Energie, die sie zurückwarf. Sie prallte gegen die Werkbank, der Schmerz fuhr durch ihren Rücken, doch sie hielt den Blick fest auf die Kugel gerichtet. Das Flüstern wandelte sich in ein schrilles Kreischen, und der Nebel begann, sich zu bewegen, als ob er von der Kugel angezogen wurde. Elara wusste, dass die Zeit knapp wurde. Irgendetwas musste sie tun, bevor alles außer Kontrolle geriet.

Elara schnappte nach Luft, als das Kreischen in ein dröhnendes Brummen überging, das die gesamte Werkstatt zu durchdringen schien. Sie spürte, wie der Boden unter ihr vibrierte, und der Nebel begann, in konzentrischen Wellen um die Kugel zu kreisen. Es war, als ob das Artefakt etwas heraufbeschwor, etwas, das nur darauf wartete, die Barriere zu durchbrechen. „Rurik, wo bist du?“ flüsterte Elara verzweifelt und richtete sich auf. Ihre Beine zitterten, doch sie zwang sich, standhaft zu bleiben. Der Dolch in ihrer Hand war kalt, seine Spitze leicht gezittert, als ob auch er auf die unheimliche Energie reagierte. Ein seltsames Licht begann sich im Raum auszubreiten, ein blasses, violettes Glühen, das von der Kugel ausging und sich wie Nebelschleier über den Boden zog. Das Licht erhellte Details, die sie zuvor nicht bemerkt hatte: Runen an den Wänden, die jetzt ebenfalls zu pulsieren schienen, und eine verborgene Luke hinter der Werkbank, deren Umrisse im Leuchten sichtbar wurden. Elara zögerte. Die Luke war vorher nie aufgefallen, doch sie spürte, dass sie damit zusammenhing, was hier geschah. Sie griff nach der kleinen Kurbel an der Luke, doch bevor sie sie drehen konnte, drang eine neue Stimme durch das Kreischen. Anders als das Flüstern zuvor war diese Stimme tief und durchdringend. Sie sprach eine Sprache, die Elara nicht verstand, doch die Worte trugen eine Macht in sich, die sie erschaudern ließ. „Was willst du?“ rief sie in die Dunkelheit und hob ihren Dolch. Ihre Stimme klang fester, als sie sich fühlte. Das Licht flackerte, und für einen Moment schien das Kreischen nachzulassen. Dann trat etwas aus dem Nebel. Es war keine klare Gestalt, sondern ein Schimmer, ein Schatten, der zwischen den Dimensionen zu schwanken schien. Augenblicklich spürte Elara, wie die Temperatur weiter sank. Ihre Haut zog sich zusammen, ihr Atem wurde zu Nebelschwaden. „Das Siegel ist zerbrochen,“ sagte die Gestalt mit einer Stimme, die sich wie Metall auf Stein anhörte. „Du kannst den Fluss nicht aufhalten. Es ist zu spät.“ Elara hielt ihren Dolch fester und trat einen Schritt zurück, bis ihr Rücken die Werkbank berührte. Ihre Augen flackerten zwischen der Gestalt und der Kugel hin und her, deren Licht jetzt wie ein lebendiges Wesen schien. „Was bist du? Was ist dein Ziel?“ Die Gestalt verzog sich zu einem Wirbel aus Nebel, kam näher, doch ihre Konturen blieben undeutlich. „Ich bin der Anfang und das Ende,“ sagte sie kryptisch. „Und du bist nur eine von vielen.“ Plötzlich öffnete sich die Luke hinter ihr mit einem lauten Knirschen, ohne dass sie die Kurbel betätigt hatte.

Ein starker Luftzug strömte nach oben, begleitet von einem kalten, stechenden Geruch, der Elara die Augen tränen ließ. Das Kreischen verstummte, und die Kugel schien für einen Moment zu erstarren. „Das ist meine einzige Chance,“ murmelte Elara und griff mit einer Hand nach der Kugel. Die fremde Energie durchflutete sie sofort, ihr Atem stockte, und sie spürte ein Ziehen in ihrem Inneren, als ob etwas sie auseinanderreißen wollte. Doch sie hielt durch, zog die Kugel an sich und sprang in die geöffnete Luke. Der Sturz war kurz, doch er fühlte sich endlos an. Sie landete unsanft auf kaltem Stein, das Licht der Kugel war ihr einziger Orientierungspunkt. Unter ihr erstreckte sich ein riesiger, gewölbter Raum, dessen Wände mit den gleichen Runen bedeckt waren, die sie oben gesehen hatte. Doch hier leuchteten sie heller, fast grell. Die Gestalt folgte ihr nicht, doch das Flüstern war noch immer da, diesmal in ihrem Kopf. „Du kannst nicht entkommen. Du bist ein Teil des Kreises.“ Elara spürte, wie ihre Knie nachgaben, doch sie zwang sich, weiterzugehen. Die Kugel in ihren Händen begann zu glühen, wärmer und heller als zuvor. Sie wusste nicht, was sie tun musste, doch ein Instinkt trieb sie weiter in die Dunkelheit, dorthin, wo die Runen am stärksten pulsierten. Mit jedem Schritt schien die Luft schwerer zu werden. Der Raum dehnte sich aus, eine gewaltige Kammer, die nicht zu enden schien. In der Mitte des Raums sah sie schließlich eine Struktur, die wie ein Altar aussah. Die Runen auf der Oberfläche pulsierten in einem chaotischen Rhythmus, und das Licht der Kugel antwortete darauf, als ob sie ein Teil desselben Systems wären. „Das ist der Nexus,“ flüsterte Elara. Sie wusste nicht, woher sie das wusste, doch das Wort fühlte sich richtig an. Die Kugel in ihren Händen begann sich stärker zu erwärmen, und das Leuchten erreichte einen Punkt, an dem sie es kaum noch ertragen konnte. Sie trat an den Altar heran, legte die Kugel vorsichtig in eine Vertiefung, die wie dafür gemacht war. Kaum hatte sie losgelassen, begann die Struktur zu vibrieren, ein tiefes Grollen erfüllte den Raum. Die Runen leuchteten jetzt so hell, dass sie den Raum in ein unheimliches Licht tauchten. Dann begann der Nebel, sich zu bewegen. Aus allen Richtungen strömte er auf die Kugel und den Altar zu, wurde dichter, schwerer. Elara trat zurück, ihr Atem ging schneller. Aus dem Nebel formten sich wieder die Schatten, diesmal klarer, greifbarer. Es waren viele, dutzende, und sie bewegten sich auf sie zu. „Das darf nicht das Ende sein,“ murmelte Elara und zog ihren Dolch. Sie spürte, dass der Moment gekommen war, etwas zu tun, doch sie wusste nicht, was. Der Nexus schien eine unbändige Energie freizusetzen, und die Schatten wurden immer dichter. Elara wusste, dass sie nur Sekunden hatte, bevor sie überwältigt werden würde. Inmitten des Chaos erschien plötzlich ein weiteres Licht, ein bläulicher Schein, der aus einer der Wände brach. Eine Gestalt, ganz aus Licht geformt, trat hervor. Sie sprach mit einer Stimme, die gleichzeitig ruhig und voller Macht war. „Du bist nicht allein, Suchende.“ Die Lichtgestalt hob eine Hand, und die Schatten zögerten, hielten inne. „Doch deine Entscheidung wird alles verändern. Der Nexus kann geschlossen oder entfesselt werden. Wähle weise.“ Elara spürte, wie die Augen der Lichtgestalt auf ihr ruhten, und ein seltsamer Frieden legte sich über sie. Doch die Worte hallten in ihrem Kopf: geschlossen oder entfesselt. Die Zeit tickte, und die Entscheidung lag bei ihr.

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