Nexus Entscheidung
Elara atmete flach, ihr Blick wechselte zwischen der Lichtgestalt und der pulsierenden Kugel auf dem Altar. Der Nebel um sie herum schien zu vibrieren, die Schatten hielten inne, doch ihre unruhigen Bewegungen zeigten, dass sie nur auf einen Bruchteil einer Sekunde der Unachtsamkeit warteten. Die Worte der Lichtgestalt hallten in ihrem Kopf wider: „Der Nexus kann geschlossen oder entfesselt werden. Wähle weise.“ Was bedeutete weise? Elara spürte, wie ihre Gedanken rasten. Der Nebel, die Schatten, der Altar – alles schien sich zu verbinden, doch die Antworten entzogen sich ihr.
Sie erinnerte sich an die Aufzeichnungen in Ruriks Notizbuch: das Siegel, das die Barriere hielt, die Balance zwischen den Welten. Doch auch dort war nie von einer Wahl die Rede gewesen. Wieso lag es ausgerechnet an ihr? „Was passiert, wenn ich schließe?“ fragte sie, ihre Stimme zitterte, doch sie zwang sich, standhaft zu bleiben. Die Lichtgestalt trat einen Schritt näher, ihr glänzendes Licht verdrängte einen Teil des Nebels. „Die Barriere wird gestärkt,“ sagte sie, ihre Stimme trug eine sanfte Autorität. „Doch zu einem Preis. Die Energie, die die Welten verbindet, wird in den Nexus fließen, und was dahinter lauert, wird vorerst gebunden bleiben. Doch die Balance ist fragil, und dies wird nicht das Ende sein.“ Elara spürte einen Kloß in ihrem Hals. „Und wenn ich entfessele?“ Die Lichtgestalt hielt inne, und für einen Moment schien sie zu zögern. „Der Nebel wird seinen Anker verlieren. Er wird chaotisch, zerstörerisch, doch zugleich wird das Siegel seine wahre Natur offenbaren. Das Wissen, das lange verborgen war, wird zugänglich. Doch dieses Wissen ist keine Garantie für Sieg.“ „Chaos oder Zerstörung?“ flüsterte Elara, mehr zu sich selbst als zur Lichtgestalt. „Das ist keine Wahl, das ist ein Fluch.“ Die Schatten begannen sich zu regen, ein leises Flüstern stieg auf, als ob sie ihre Zweifel spürten. Elara spürte, wie die Zeit gegen sie arbeitete. Sie hatte keine Gewissheit, keine Garantie. Alles, was sie hatte, war ihr Instinkt. „Ich…“ Sie trat näher an den Altar, ihre Hand über der Kugel schwebend. Das Glühen der Gravuren hatte sich beschleunigt, und die Hitze des Artefakts strahlte in Wellen aus. Die Lichtgestalt sagte nichts mehr, sie wartete. Die Schatten hielten inne, als ob sie wussten, dass dies der Moment war, auf den sie gewartet hatten.
Elara schloss die Augen. Bilder fluteten ihren Geist: die Werkstatt, Rurik, die Stadt in der Ferne, gehüllt in Nebel. Sie sah Gesichter, die sie nicht kannte, Stimmen, die sie riefen. Es war, als ob die Kugel selbst mit ihr sprach, als ob sie ihr den Weg weisen wollte. Doch war es ein Weg in die Rettung oder in die Verdammnis? Ihre Augen öffneten sich. Sie wusste, dass sie die Verantwortung tragen musste, egal, welche Entscheidung sie traf. Sie atmete tief ein, hob ihre Hand und legte sie auf die Kugel. Der Raum explodierte in Licht. Die Kugel unter ihrer Hand schien zu zerspringen, doch stattdessen begann sie sich aufzulösen, ihre Energie floss in den Altar und von dort in die Runen, die die Wände bedeckten. Ein tiefes Dröhnen durchfuhr den Raum, der Boden unter Elaras Füßen bebte, und der Nebel zog sich ruckartig zurück, wie von einer unsichtbaren Kraft gezwungen. Die Schatten wichen, ihre Formen zerflossen in der aufsteigenden Helligkeit, bis nichts mehr übrig war als die pulsierenden Runen und das Licht des Altars. Elara taumelte, der Druck der Energie hatte ihren Körper fast überfordert. Doch sie hielt stand. Die Lichtgestalt stand noch immer da, doch sie war blasser geworden, weniger greifbar. „Du hast deine Wahl getroffen,“ sagte sie, und ihre Stimme war jetzt ruhiger, sanfter. „Die Barriere ist erneuert, doch der Preis war hoch. Was du jetzt siehst, ist nur der Anfang.“ „Was meinst du?“ fragte Elara keuchend, ihre Stimme brüchig. „Die Energie des Nexus ist nicht zerstört. Sie ist gebunden, doch sie wird immer einen Weg suchen. Du hast Zeit gewonnen, Suchende, doch keine Antwort.“ Bevor Elara antworten konnte, begann die Lichtgestalt zu verblassen. „Die Antworten liegen jenseits dieses Ortes. Finde sie, bevor die Schatten es tun.“ Dann war sie weg, und Elara war allein.
Die Stille, die folgte, war fast erdrückend. Der Altar war kühl, die Kugel verschwunden. Die Runen an den Wänden hatten aufgehört zu leuchten, und der Raum war wieder in Dunkelheit getaucht. Elara spürte, wie ihre Beine nachgaben, und sie ließ sich auf den Boden sinken. Ihr Atem ging stoßweise, und der Schweiß lief ihr über das Gesicht. Doch sie wusste, dass sie nicht bleiben konnte. Irgendwo dort oben wartete eine Welt, die nicht wusste, was gerade geschehen war, und eine Gefahr, die noch lange nicht vorbei war. Mit zitternden Händen richtete sie sich auf und begann den langen Weg zurück zur Oberfläche. Ihre Gedanken waren ein Wirrwarr, als sie durch die Tunnel ging. War die Lichtgestalt wirklich ein Verbündeter gewesen? Was genau hatte sie gewonnen, und was hatte sie verloren? Und wieso schien der Nebel, obwohl er verschwunden war, noch immer wie eine Bedrohung in der Luft zu liegen? Als sie die letzte Leiter zur Oberfläche erreichte, atmete sie tief ein. Ihre Welt war nicht mehr dieselbe, und sie wusste, dass ihre Rolle in diesem Spiel gerade erst begonnen hatte. Die Straßen über ihr waren still, doch es war eine seltsame, bedrückende Stille. Der Nebel hatte sich zurückgezogen, aber er war nicht verschwunden. Stattdessen hing eine unheimliche Klarheit in der Luft, als ob die Stadt den Atem anhielt. Lichter flackerten in der Ferne, und Elara konnte sehen, wie kleine Gruppen von Menschen sich in den Schatten drückten, misstrauisch die leeren Gassen beobachtend. Sie spürte, dass die Ereignisse unter der Oberfläche nicht unbemerkt geblieben waren. Irgendetwas hatte sich verändert. Das Dröhnen, das mit ihrer Entscheidung im Nexus endete, schien eine Welle von Unruhe durch die Stadt geschickt zu haben. Gebäude wirkten älter, als ob sie plötzlich von den Jahren gezeichnet worden wären. Fenster zerbrachen, als ob sie dem Druck einer unsichtbaren Kraft nicht standhalten konnten. Ein dumpfes Summen drang durch die Stille. Elara erkannte es sofort – es war das gleiche Geräusch, das sie in der Nähe des Nexus gehört hatte, doch es war schwächer, weiter entfernt. Sie folgte dem Klang, ihre Schritte vorsichtig, die Hand an ihrem Dolch. In einer Gasse, kaum beleuchtet, fand sie die Quelle. Ein alter Mann saß auf dem Boden, zusammengesunken und zitternd. Seine Lippen bewegten sich, als ob er sprach, doch kein Laut drang hervor. Um ihn herum schien die Luft zu vibrieren, und als Elara näher trat, sah sie, dass seine Augen mit einem blassen Licht glühten. „Was ist mit Ihnen?“ fragte sie, doch der Mann reagierte nicht. Sie ging in die Hocke, berührte vorsichtig seine Schulter, und in diesem Moment riss er den Kopf hoch. Seine Augen fixierten sie, und aus seinem Mund kam ein einziges Wort:
„Kommend.“
Elara fröstelte, als das Wort wie ein Echo durch die enge Gasse rollte. Der alte Mann zitterte unkontrolliert, während das Licht in seinen Augen für einen kurzen Moment aufleuchtete, dann erlosch. Er sackte kraftlos in sich zusammen, sein Atem schwer und flach. Elara beugte sich näher zu ihm, ihr Dolch noch immer in der anderen Hand, bereit auf jede Bewegung zu reagieren. „Was kommt?“ fragte sie mit scharfer Stimme, doch der Mann schien nicht mehr bei Bewusstsein zu sein. Um ihn herum blieb die Luft seltsam aufgeladen, fast elektrisch. Sie blickte sich um, ihre Sinne geschärft, aber die Gasse war leer. Trotzdem konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, beobachtet zu werden. Ein leises Kratzen erklang aus der Dunkelheit, kaum hörbar, aber es ließ Elaras Herz einen Moment lang aussetzen. Sie richtete sich auf, den Dolch fest umklammert, ihre Augen suchten die Schatten ab. Das Kratzen wurde lauter, rhythmischer, als ob etwas mit langen, scharfen Klauen über Stein glitt. Dann sah sie es. Ein Schatten, kaum mehr als ein flüchtiger Umriss, bewegte sich an der Wand entlang. Er war zu schnell, zu unnatürlich, um menschlich zu sein. Elara spürte, wie die vertraute Kälte des Nebels sie wieder umklammerte, und sie wusste, dass die Barriere sie hier oben nicht vollständig schützte. „Bleib zurück!“ rief sie und hob den Dolch. Ihre Stimme hallte durch die Gasse, doch der Schatten hielt nicht inne. Stattdessen schien er sich aufzublähen, dunkler und größer zu werden, bis er schließlich eine humanoide Form annahm. Die Konturen der Gestalt waren verzerrt, die Proportionen falsch, und wo ein Gesicht hätte sein sollen, war nur gähnende Leere. „Suchende,“ sprach die Gestalt, ihre Stimme war ein tiefes Grollen, das in Elaras Brust vibrierte. „Du hast das Gleichgewicht verschoben.“ „Wer bist du?“ Elaras Stimme war fest, doch ihre Hände zitterten. Sie machte einen Schritt zurück, der Mann auf dem Boden war vergessen. Alles, was zählte, war die Bedrohung vor ihr. Die Gestalt bewegte sich nicht, doch der Schatten um sie herum pulsierte wie eine lebendige Masse. „Ich bin ein Teil dessen, was kommt. Du hast den Nexus berührt, das Siegel verletzt. Jetzt bist du verbunden.“ Elaras Herz raste. „Verbunden? Mit was?“ Die Gestalt antwortete nicht, doch ihre Form begann sich zu verändern. Lange, dünne Gliedmaßen wuchsen aus ihrem Körper, und ihre Bewegungen wurden schneller, ruckartiger. „Es gibt keinen Weg zurück,“ sagte sie schließlich. „Nur vorwärts.“ Mit diesen Worten stürmte die Gestalt auf sie zu.
Elara reagierte instinktiv, sie warf sich zur Seite, gerade rechtzeitig, um den ersten Schlag zu vermeiden. Der Dolch in ihrer Hand leuchtete schwach, als ob er auf die Dunkelheit reagierte. Sie wirbelte herum und führte einen schnellen Hieb gegen die Gestalt aus. Der Dolch traf etwas Festes, und ein scharfer, unnatürlicher Schrei erfüllte die Gasse. Die Gestalt wich zurück, ihre Form schien für einen Moment instabil zu werden, doch sie erholte sich schnell. „Du bist stärker, als ich erwartet habe,“ sagte sie, ihre Stimme jetzt voller Zorn. „Aber das reicht nicht.“ Elara spürte, wie die Kälte um sie herum zunahm. Ihre Bewegungen wurden schwerer, als ob der Nebel selbst sie festhielt. Sie wusste, dass sie nicht gewinnen konnte, nicht allein. Doch sie wusste auch, dass Flucht keine Option war. Sie musste einen Weg finden, die Gestalt zu schwächen. Ihre Augen suchten die Umgebung ab, bis sie ein altes Gasrohr entdeckte, das aus der Wand ragte. Ein Plan formte sich in ihrem Kopf. Sie lockte die Gestalt näher heran, ihre Schritte gezielt, während sie weiterhin Angriffe mit dem Dolch ausführte, um sie zu beschäftigen. Als die Gestalt nah genug war, trat Elara zurück, riss das Gasrohr aus der Wand und schlug mit aller Kraft dagegen. Ein Funken genügte, um eine kleine Explosion auszulösen. Die Flammen erfassten die Gestalt, die mit einem ohrenbetäubenden Schrei in sich zusammenfiel. Der Nebel zog sich zurück, und die Gasse war für einen Moment wieder still. Elara keuchte, ihre Lungen brannten von der Anstrengung. Doch sie wusste, dass dies nur ein Vorgeschmack war. Was auch immer „kommend“ bedeutete, es war größer als das, was sie gerade besiegt hatte. Und es würde sie finden. Mit zitternden Händen hob sie den Dolch, dessen Klinge jetzt matt schimmerte. Sie wandte sich ab und begann, die Gasse zu verlassen. Sie musste Antworten finden, und sie wusste, dass die Zeit gegen sie arbeitete. Der Kampf hatte gerade erst begonnen.
Die Nacht hatte sich verdichtet, als Elara das Labyrinth der Gassen verließ und die breiteren Straßen der Stadt erreichte. Das Flackern von Gaslampen beleuchtete schwach die leeren Wege, während der Nebel wie ein stiller Beobachter zwischen den Gebäuden schwebte. In der Ferne konnte sie die Umrisse der Hauptstraße erkennen, wo ein schwacher Schein darauf hindeutete, dass noch Menschen wach waren. Doch etwas war anders. Die Luft war schwer, nicht nur vom Nebel, sondern von einer Anspannung, die sie fast erdrückte. Geräusche drangen an ihr Ohr – gedämpfte Stimmen, das Schlagen von Metall, das entfernte Knarren von Türen. Die Stadt lebte, aber auf eine Weise, die sie nicht gewohnt war. Als sie um eine Ecke bog, sah sie eine Gruppe von Menschen, die sich um ein Feuer versammelt hatten. Ihre Gesichter waren blass, die Kleidung abgetragen, und ihre Bewegungen zeugten von Erschöpfung. Einer der Männer hielt eine improvisierte Waffe, ein rostiges Stück Metall, das er nervös hin und her schwenkte, als er Elara bemerkte. „Wer da?“ rief er, seine Stimme angespannt. Die anderen drehten sich um, ihre Augen glühten im Schein des Feuers vor Misstrauen. Elara hob die Hände, den Dolch locker in ihrer Hand, um keine Bedrohung darzustellen. „Ich bin nur auf der Durchreise,“ sagte sie ruhig. „Ich suche Antworten.“ Eine Frau aus der Gruppe trat vor, ihre Augen musterten Elara mit scharfer Neugier. „Antworten?“ Ihre Stimme war rau, doch nicht feindselig. „Es gibt keine Antworten mehr, nur Überleben. Was auch immer hier passiert, hat die Stadt längst gebrochen.“ „Was meinst du damit?“ fragte Elara und trat vorsichtig näher. Sie konnte die Erschöpfung und Angst in den Gesichtern der Menschen sehen, aber auch eine merkwürdige Entschlossenheit. Die Frau schüttelte den Kopf. „Du hast es gesehen, nicht wahr? Die Schatten? Sie sind überall. Sie nehmen die, die allein sind. Wir hören die Schreie, aber wir können nichts tun.“ Ein jüngerer Mann in der Gruppe fügte hinzu: „Und der Nebel… Er wird dichter. Manche sagen, sie sehen Dinge darin. Andere… andere kommen gar nicht zurück.“ Elaras Gedanken rasten. Die Schatten und der Nebel schienen sich schneller auszubreiten, als sie befürchtet hatte.
Ihre Entscheidung im Nexus hatte etwas verändert, doch sie wusste nicht, ob sie es aufgehalten oder beschleunigt hatte. Sie musste zu Rurik zurückkehren, zu den Aufzeichnungen, zu den Antworten, die sie so dringend brauchte. Die Gruppe starrte Elara an, und für einen Moment fühlte sie sich wie eine Eindringlingin in einer Welt, die sie kaum noch erkannte. Der Nebel wirkte dichter, fast lebendig, als ob er auf ihre Anwesenheit reagierte. Doch sie spürte auch etwas anderes – eine Art Hoffnung, so schwach wie die flackernden Flammen des Feuers. „Ihr könnt nicht einfach hierbleiben,“ sagte Elara schließlich, ihre Stimme durchdringend. „Die Schatten werden zurückkommen. Sie wissen, dass ihr hier seid.“ Die Frau, die zuvor gesprochen hatte, verschränkte die Arme und sah Elara herausfordernd an. „Und wohin sollen wir gehen? Die Stadt ist nicht mehr sicher. Nirgendwo ist das.“ „Es gibt Orte,“ begann Elara, doch sie hielt inne. Wo genau sollten sie hin? Selbst die Werkstatt war nicht mehr der sichere Hafen, den sie einst gekannt hatte. Doch etwas in ihr drängte sie, weiterzusprechen. „Ich kenne jemanden, der helfen kann. Ein Verbündeter. Wenn wir es schaffen, ihn zu erreichen, können wir vielleicht eine Möglichkeit finden, die Barriere zu verstärken oder zumindest die Schatten fernzuhalten.“ Die Gruppe sah sich gegenseitig an, eine Mischung aus Misstrauen und Hoffnung spiegelte sich auf ihren Gesichtern. Der Mann mit der improvisierten Waffe trat vor. „Wer bist du, dass du glaubst, du könntest etwas ändern? Die Stadt ist verloren.“ Elara sah ihn direkt an, ihre grünen Augen funkelten im Feuerschein. „Ich bin jemand, der das Gleichgewicht verletzt hat,“ sagte sie leise, aber mit Nachdruck. „Und ich werde es wiederherstellen, egal was es kostet.“ Die Worte hingen in der Luft, schwer von Bedeutung. Nach einem Moment nickte die Frau. „Wenn du uns führen kannst, dann folgen wir dir. Aber ich warne dich – wir haben keine Kraft mehr für falsche Versprechen.“ „Ich verspreche nichts,“ antwortete Elara. „Nur, dass ich nicht zulasse, dass diese Stadt an den Nebel verloren geht.“ Die Gruppe machte sich bereit, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken. Elara blieb wachsam, ihre Sinne geschärft. Der Nebel war still, aber sie wusste, dass das nichts Gutes bedeutete. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Während die anderen sich sammelten, trat der junge Mann, der zuvor von den verschwundenen Menschen gesprochen hatte, zu ihr. „Du hast wirklich gegen die Schatten gekämpft?“ fragte er leise, seine Augen weit vor Staunen. Elara nickte. „Ja. Aber es war knapp. Sie sind stark, und sie lernen schnell.“ „Glaubst du, wir haben eine Chance?“ Seine Stimme zitterte, und Elara sah die Angst in seinen Augen, eine Angst, die sie selbst nur zu gut kannte. „Solange wir zusammenbleiben und vorsichtig sind, ja,“ sagte sie und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Aber du musst lernen, dich zu wehren. Jeder von uns muss das.“ Er nickte langsam, und ein Hauch von Entschlossenheit schlich sich in sein Gesicht. „Dann zeig mir, wie man kämpft.“ Elara wollte etwas erwidern, doch ein entferntes Kreischen durchbrach die Nacht. Es war hoch und langgezogen, und es ließ die Haut auf ihren Armen prickeln. Die Gruppe erstarrte, und alle Augen wandten sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. „Wir müssen jetzt gehen,“ sagte Elara scharf. „Bleibt zusammen und bewegt euch leise. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen.“
Die Gruppe setzte sich in Bewegung, die Schritte gedämpft auf dem Kopfsteinpflaster. Elara führte sie durch die engen Gassen, immer darauf bedacht, die offenen Straßen zu meiden. Der Nebel wurde dichter, und das Kreischen kehrte immer wieder, mal näher, mal weiter entfernt. Es war, als ob die Schatten mit ihnen spielten, sie jagten. Die Stadt um sie herum wirkte gespenstisch, als hätten die Gebäude selbst das Leiden der Menschen aufgenommen. Fassaden waren von Rissen durchzogen, Fenster lagen in Scherben, und an den Ecken stapelten sich Überreste von Habseligkeiten, die in der Eile zurückgelassen worden waren. Elara spürte, wie der Nebel ihre Lungen füllte, als wäre er lebendig und wollte sie von innen heraus ersticken. „Bleibt dicht bei mir,“ sagte sie über die Schulter, ihre Stimme so leise wie der Wind. Ihre Augen suchten die Schatten ab, die zwischen den zerfallenen Mauern lauerten. Ein leises Weinen durchbrach die Stille. Es kam aus einer Seitengasse, kaum mehr als ein Flüstern im Nebel. Die Gruppe hielt inne, jeder starrte in die Dunkelheit. „Was war das?“ flüsterte der junge Mann, seine Stimme zitterte. „Es könnte eine Falle sein,“ sagte die Frau mit der improvisierten Waffe und trat einen Schritt zurück. „Wir sollten es ignorieren.“ Elara schüttelte den Kopf. „Wenn dort jemand ist, können wir nicht einfach wegsehen.“ Sie bewegte sich vorsichtig auf die Gasse zu, ihre Klinge bereit. Das Weinen wurde deutlicher, ein klagender Laut, der die Härte des Nebels durchdrang. Als Elara um die Ecke spähte, sah sie ein kleines Kind, zusammengesunken an der Wand, die Arme um die Knie geschlungen. Das Mädchen sah blass aus, als hätte der Nebel sie ausgehöhlt. Ihre Augen waren leer, ohne Glanz. „Bist du allein?“ fragte Elara sanft, doch das Kind reagierte nicht. Sie machte einen Schritt nach vorne, doch ein seltsames Flackern im Nebel ließ sie innehalten. Die Luft schien sich zu bewegen, und plötzlich begriff Elara, dass dies keine Rettung, sondern eine Falle war. „Zurück!“ schrie sie und riss das Kind an sich, während eine dunkle Gestalt aus dem Nebel hervorbrach. Sie war schneller und größer als die vorherige Kreatur, und ihre Form war noch weniger greifbar. Ihre Arme verlängerten sich wie Schatten, peitschten durch die Luft und zerschlugen die Steine der Gasse.
Die Gruppe reagierte sofort. Die Frau schwang ihre Waffe, während der junge Mann dis Axt auf die Kreatur warf. Elara rollte sich ab, das Kind fest an sich gedrückt, und suchte nach einem Angriffspunkt. Die Gestalt war wild, chaotisch, und die Angriffe prallten von ihr ab, als ob sie nichts Substanzielles war. „Wir müssen hier weg!“ rief die Frau. „Das Ding ist zu stark!“ „Nein,“ sagte Elara entschlossen. „Wenn wir fliehen, folgen sie uns. Wir müssen sie hier und jetzt aufhalten.“ Die Kreatur wandte sich Elara zu, ihre leeren Augen glühten bedrohlich. Sie spürte die Kälte des Nebels stärker denn je, doch sie stellte sich der Dunkelheit, ihre Klinge bereit, und wartete auf den richtigen Moment, zuzuschlagen. Elara ballte die Faust um ihren Dolch, ihre Augen fixierten die sich verdichtende Kreatur. Der Nebel schien ihre Bewegungen langsamer zu machen, ihre Gedanken trügerisch zu beeinflussen. Sie wusste, dass sie einen letzten, entscheidenden Schlag führen musste, bevor die Dunkelheit sie alle verschlang. „Ablenken!“ rief sie der Frau und dem jungen Mann zu, ihre Stimme scharf wie der Dolch in ihrer Hand. Sie wusste, dass sie ihre Kräfte bündeln mussten, um auch nur eine Chance zu haben. Der junge Mann zögerte nur kurz, bevor er mit einem Kampfschrei auf die Kreatur zulief. Seine Axt wirbelte in der Luft, bevor er die Kreatur direkt in ihrer flackernden Form traf. Der Schlag brachte die Gestalt ins Schwanken, und die Schatten um sie herum schienen für einen Moment ins Chaos zu geraten. Die Frau, mutiger als zuvor, schwang ihre improvisierte Waffe mit solcher Wucht, dass sie ein grollendes Geräusch erzeugte, als sie die Kreatur traf. Ein Schrei, durchzogen von Zorn und Schmerz, entwich der Gestalt, während sie sich verzerrte und für einen Moment ihre Form verlor. Doch dann sammelte sie sich erneut, schneller, gefährlicher als zuvor. Elara wusste, dass dies ihre einzige Gelegenheit war. Sie stürzte sich nach vorn, ihre Klinge in einer präzisen Bewegung geführt. Der Dolch glitt durch die pulsierende Mitte der Kreatur, die Stelle, die am hellsten glühte. Ein durchdringendes, ohrenbetäubendes Geräusch erfüllte die Gasse, als die Gestalt vor Schmerz zu beben begann. „Zurück!“ schrie Elara, während sie sich von der zuckenden Kreatur abrollte. Die anderen folgten ihrem Ruf und suchten Schutz hinter einer halb eingestürzten Mauer. Der Nebel um die Kreatur begann, in einem unkontrollierten Strudel zu wirbeln, bevor er mit einem lauten Knall zerbarst. Die Gasse wurde still. Der Nebel hatte sich zurückgezogen, und die bedrohliche Präsenz der Kreatur war verschwunden. Elara richtete sich auf, ihre Beine zitterten, und sie spürte, wie die Anstrengung des Kampfes an ihr zehrte. Der Dolch in ihrer Hand war warm, fast als hätte er die Energie der Kreatur in sich aufgenommen. Der junge Mann sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Du hast es geschafft…“ keuchte er, seine Stimme ein Gemisch aus Erleichterung und Ehrfurcht. „Wir haben es geschafft,“ korrigierte Elara und sah die Frau an, die noch immer ihre improvisierte Waffe umklammerte. „Das war ein gemeinsamer Kampf.“ Doch ihre Worte konnten die Stille nicht füllen, die nun über ihnen lag. Sie wusste, dass dies nur ein kleiner Sieg war. Die Schatten waren nicht verschwunden, und der Nebel, obwohl zurückgedrängt, würde bald wieder seinen Platz einnehmen. Das kleine Kind, das sie aus der Falle gerettet hatte, kauerte noch immer an der Wand. Elara kniete sich nieder, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. „Es ist vorbei,“ sagte sie sanft, doch das Kind rührte sich nicht. Es wirkte abwesend, seine Augen starrten ins Nichts. „Was ist mit ihm?“ fragte die Frau, ihre Stimme war von Sorge durchdrungen. „Ich weiß es nicht,“ gab Elara zu. „Aber wir können es nicht hierlassen. Irgendetwas hat es berührt… und vielleicht wissen wir irgendwann, wie wir helfen können.“ Die Frau nickte zögernd, und der junge Mann reichte Elara eine Decke, die er aus seinem Bündel holte. Sie wickelte das Kind vorsichtig ein und hob es hoch. Trotz der Kälte des Nebels war es warm, als ob es eine eigene, seltsame Energie besaß. „Wir müssen weiter,“ sagte Elara entschlossen. „Zur Werkstatt. Dort können wir verschnaufen und überlegen, wie es weitergeht.“ Die Gruppe setzte sich erneut in Bewegung, erschöpft, aber mit einem Funken Hoffnung. Die Straßen der Stadt blieben still, doch die Schatten, die in den Fenstern der Gebäude lauerten, erinnerten Elara daran, dass dies kein sicherer Ort mehr war. Jede Entscheidung, jeder Schritt zählte. Und der Nebel würde nicht aufhören, bis er alles verschlungen hatte.
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