Elara Schatten im Nebel Kapitel 8

Schatten der Vergangenheit

Die Dunkelheit des Tunnels hüllte die Gruppe ein, während sie sich vorsichtig vorwärts tastete. Kaels Laterne war das einzige Licht, das die feuchten Wände erhellte und die Schatten grotesk tanzen ließ. Elara spürte, wie das Gewicht des Kindes in ihren Armen schwerer wurde, oder vielleicht war es nur die Last der Verantwortung, die auf ihr lastete. Jeder Schritt schien unendlich laut in der bedrückenden Stille, die nur von gelegentlichem Tropfen unterbrochen wurde. Kael blieb plötzlich stehen, drehte sich zu ihnen um und sprach leise, aber bestimmt: „Wir müssen hier anhalten. Der nächste Abschnitt ist gefährlich, und wir müssen uns darauf vorbereiten.“ Elara nickte nur stumm, setzte sich auf den kalten Boden und bettete das Kind vorsichtig in eine geschützte Ecke.

Rurik ließ sich mit einem schweren Seufzen nieder, während die Frau und der junge Mann dicht beieinander standen, als suchten sie Trost in der Nähe des anderen. Kael lehnte sich an die feuchte Wand und ließ seine Augen über die Gruppe wandern. „Ihr müsst verstehen,“ begann er nach einer Weile, „dass der Nebel nicht einfach nur ein Feind ist. Er ist eine Kraft, die uns alle kennt, die uns spüren kann.“ Sein Blick verharrte kurz auf Elara, bevor er in die Dunkelheit abschweifte. „Und er vergisst nicht.“ Elara schluckte schwer und spürte, wie sich ihre Finger unbewusst um das rote Tuch an ihrem Hals schlossen. Die Worte weckten etwas in ihr, eine Erinnerung, die sie jahrelang tief begraben hatte. Es war eine Nacht, ähnlich wie diese – dunkel, voller Bedrohung. Sie war noch ein Kind gewesen, hatte sich mit ihrer Familie in einem Keller versteckt, als der Nebel kam. Das rote Tuch hatte ihr gehört, ihrer kleinen Schwester. Der Gedanke daran, was mit ihr passiert war, schnürte Elara die Kehle zu. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben, doch sie blieben wie ein schwerer Schleier in ihrem Geist. „Warum bist du so sicher, dass du ihn verstehst?“ fragte sie schließlich, ihre Stimme schärfer, als sie es beabsichtigt hatte. Kael sah sie an, seine Augen dunkel und voller unausgesprochener Geschichten. „Weil ich selbst einmal Teil davon war,“ antwortete er leise. Die Worte ließen die Luft aus dem Raum entweichen. Rurik hob den Kopf, seine Augenbrauen zogen sich skeptisch zusammen. „Teil davon? Was soll das heißen?“ Kael senkte den Blick, als ob er sich einen Moment sammeln müsste. „Es gibt Dinge, die der Nebel dir zeigt, wenn er dich berührt. Er nimmt dir nicht nur, was du liebst, sondern hinterlässt etwas – ein Stück von sich selbst. Ich habe überlebt, aber ich habe immer das Gefühl gehabt, dass er nie ganz von mir gegangen ist.“ Seine Stimme wurde brüchig, doch er zwang sich, weiterzusprechen. „Ich habe gelernt, mit dem Nebel zu leben, ihn zu verstehen. Das ist der Grund, warum ich euch helfen kann. Aber es bedeutet auch, dass ich nie wirklich frei von ihm bin.“ Die Worte ließen die Gruppe in ein angespanntes Schweigen verfallen.

Rurik wirkte misstrauisch, die anderen sichtlich verunsichert. Elara hingegen spürte etwas, das sie nicht ganz greifen konnte – eine Verbindung zu Kaels Geschichte, ein Echo ihrer eigenen. Plötzlich regte sich das Kind. Ein leises Stöhnen drang aus seiner Kehle, und seine Augenlider zuckten. Elara war sofort bei ihm, hielt es sanft, während es zu erwachen schien. Seine Augen öffneten sich, und ein unheimliches, violettes Leuchten erfüllte den Raum. „Was … was passiert mit ihm?“ fragte die Frau, ihre Stimme zitterte vor Angst. Kael kniete sich neben das Kind, seine Miene ernst. „Es beginnt. Die Verbindung wird stärker. Was immer der Nebel sucht, es ist mit ihm verbunden. Aber das bedeutet auch, dass wir Antworten bekommen könnten.“ Das Kind begann zu sprechen, seine Stimme war flüsternd, kaum verständlich, doch die Worte schienen nicht von dieser Welt zu sein. „Es gibt eine Tür … sie ist offen … sie kommen …“ Die Worte schickten einen kalten Schauer durch die Gruppe. Elara fühlte, wie ihre Hände zitterten, doch sie ließ das Kind nicht los. „Was bedeutet das?“ fragte sie, ihre Stimme brüchig. Kael sah sie an, und zum ersten Mal schien selbst er keine Antwort zu haben. „Es bedeutet, dass wir keine Zeit mehr haben,“ sagte er schließlich. „Wir müssen weiter, bevor es uns findet.“ Kael hatte kaum zu Ende gesprochen, als der Boden unter ihren Füßen zu vibrieren begann. Ein dumpfes, tiefes Grollen erfüllte den Tunnel, und kleine Steine begannen von der Decke zu rieseln. „Was zum…“ begann Rurik, doch seine Worte wurden von einem lauten Krachen übertönt, als der Tunnel hinter ihnen einstürzte. Eine dichte Staubwolke füllte die Luft, und Elara spürte, wie ihr die Sicht genommen wurde. Sie zog das Kind fest an sich, während sie hustend versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. „Schnell, vorwärts!“ rief Kael, seine Stimme drängend. „Wir dürfen nicht hierbleiben.“ Die Gruppe stolperte durch den immer enger werdenden Tunnel, während das Grollen nicht nachließ. Der Einsturz hatte den Weg zurück abgeschnitten, und es schien, als würde der Nebel selbst durch die Trümmer sickern. Kael hielt die Laterne hoch, sein Blick konzentriert. „Da vorne,“ rief er und deutete auf eine schmale Abzweigung, die halb von Geröll blockiert war. „Das ist unsere einzige Chance.“ Elara spürte, wie ihre Beine unter der Last des Kindes und der Anstrengung nachzugeben drohten, doch sie biss die Zähne zusammen. „Wir schaffen das,“ murmelte sie mehr zu sich selbst als zu den anderen. Als sie die Abzweigung erreichten, mussten sie sich durch die schmale Öffnung zwängen, während der Tunnel hinter ihnen weiter kollabierte. Endlich fanden sie sich in einem kleinen, halb intakten Raum wieder, der von alten Stützbalken gehalten wurde. Der Staub legte sich langsam, und die Gruppe schnappte nach Luft. „Das war knapp,“ sagte Rurik mit einem Husten, während er sich gegen die Wand lehnte. Kael nickte, doch seine Augen waren wachsam, suchten nach weiteren Anzeichen von Gefahr. „Das war nur der Anfang,“ sagte er leise. „Wir müssen weiter, bevor der Nebel uns hier erreicht.“

Währenddessen herrschte in der Stadt eine unnatürliche Stille, die selbst die Mutigsten beunruhigte. In den Schatten der engen Gassen und unter der bröckelnden Oberfläche der Ruinen braute sich etwas zusammen. Die Menschen, die sich noch in den oberen Bezirken aufhielten, vermieden es, hinauszugehen, während das Flüstern des Nebels wie ein unheilvoller Ruf durch die Straßen zog. In den Tavernen und Verstecken der Untergrundbewegungen schwelte jedoch eine andere Art von Unruhe. Informationen über einen Einsturz unterhalb der alten Viertel hatten die Runden gemacht, und Gerüchte über mysteriöse Lichter und fremdartige Stimmen verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Niemand wusste genau, was geschehen war, aber alle spürten, dass etwas Dunkles sich regte. In einer verfallenen Kathedrale, die von den Untergrundbewegungen als Unterschlupf genutzt wurde, saß ein Mann in schwerem Mantel am Altar. Die wenigen Kerzen, die noch brannten, warfen lange, tanzende Schatten über die Wände. „Es ist begonnen,“ murmelte er, während er einen alten, abgenutzten Kompass betrachtete, dessen Nadel unruhig hin und her schwankte. „Der Nexus hat sich bewegt. Sie werden es spüren.“ Ein anderer Mann, dessen Gesicht zur Hälfte von einer dunklen Maske verdeckt war, trat aus den Schatten. „Dann bleibt uns wenig Zeit,“ sagte er leise. „Wir müssen handeln, bevor die Ordnung vollständig zusammenbricht.“ Die Stadt wirkte wie ein schlafender Riese, dessen unruhige Träume von etwas Dunklem durchzogen wurden. In den oberen Bezirken hatten die verbliebenen Bewohner ihre Türen und Fenster verriegelt, während das Flüstern des Nebels unheilvoll durch die Straßen hallte. Doch in den tieferen Schatten der Stadt, dort, wo die Sonne kaum noch hinfand, regte sich Leben. Nicht das der gewöhnlichen Bürger, sondern das der Verstoßenen, der Unsichtbaren, derjenigen, die die Regeln der Gesellschaft bereits vor langer Zeit hinter sich gelassen hatten. In einem alten Lagerhaus, dessen Fenster mit Brettern vernagelt und dessen Mauern von Ruß geschwärzt waren, sammelten sich Gestalten in schweren Umhängen und maskierten Gesichtern. Die Luft war stickig, durchzogen vom Geruch nach Schweiß, verbranntem Holz und einem Hauch von Ozon. Ein Mann mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze sprach mit drängender Stimme, seine Worte schnitten durch das Gemurmel wie ein scharfes Messer. „Der Einsturz war kein Zufall. Irgendetwas ist passiert, tief unter der Stadt. Der Nexus hat sich bewegt.“

Seine Worte sorgten für einen Moment der Stille, bevor die Unruhe erneut aufflammte. „Wenn der Nexus wirklich gestört wurde, dann sind wir in größerer Gefahr, als wir dachten,“ murmelte eine maskierte Frau, die an der Wand lehnte und mit einem Messer ein altes Stück Holz bearbeitete. „Gefahr?“ Ein Mann mit Narben, die sein Gesicht wie ein Netz überspannten, trat vor. „Gefahr ist alles, was wir kennen. Aber das hier … das ist anders. Wir müssen wissen, wer oder was das ausgelöst hat. Und vor allem, ob es uns helfen oder vernichten wird.“ Der Anführer, dessen Gesicht unter der Kapuze verborgen war, hob eine Hand, und die Stimmen verstummten. „Unsere Kundschafter berichten, dass Lichter im Nebel gesehen wurden. Bewegungen, die nicht von den Schatten stammen. Es gibt eine Gruppe, die sich im Untergrund bewegt … und sie tragen etwas bei sich. Etwas, das der Nebel will.“ Ein gemurmeltes Fluchen ging durch die Reihen, bevor die Frau mit dem Messer aufstand. „Wenn das wahr ist, haben wir keine Wahl. Wir müssen sie finden, bevor der Nebel es tut.“ Ihre Stimme war scharf und entschlossen. Der Mann mit den Narben nickte. „Aber wie? Der Nebel macht die Suche fast unmöglich, und wir wissen nichts über sie.“ „Wir wissen genug,“ unterbrach der Anführer. Er zog ein altes, handgezeichnetes Pergament hervor, das Linien und Kreise zeigte, die wie eine Karte aussahen. „Das Kind, das sie bei sich tragen, ist der Schlüssel. Es sendet ein Echo durch den Nexus. Wenn wir den Nexus verstehen, können wir sie finden.“ Ein plötzlicher Knall von außen unterbrach die Diskussion. Die Versammlung spannte sich an, Waffen wurden gezogen, und die wenigen Lichtquellen im Raum flackerten. Die Frau mit dem Messer bewegte sich lautlos zur Tür und öffnete einen kleinen Spalt, um nachzusehen. „Was siehst du?“ fragte der Narbige leise. Sie zögerte, bevor sie antwortete. „Nichts. Aber etwas ist da.“ Ihre Stimme war angespannt, ihre Muskeln angespannt wie ein gestraffter Bogen. „Der Nebel sendet seine Werkzeuge,“ sagte der Anführer mit einer leisen Bitterkeit. „Er weiß, dass wir etwas planen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ In einer anderen Ecke der Stadt, tief unter der Erde, versammelten sich die Mitglieder der unsichtbaren Regierung in einem alten, gewölbten Kellerraum. Der Raum war beleuchtet von einem sanften, grünlichen Glühen, das von einer Apparatur in der Mitte des Tisches ausging. Ein Mann mit scharfen Gesichtszügen und einem kühlen Blick sprach gerade, während die anderen zuhörten. „Der Nebel hat erneut Zeichen gezeigt. Der Einsturz könnte der Beginn einer weiteren Eskalation sein. Wir müssen die Stabilität der Stadt bewahren, egal um welchen Preis.“ Eine Frau mit strengem Gesichtsausdruck und grauem Haar legte die Hände auf den Tisch. „Was ist mit den Berichten über eine Gruppe im Untergrund? Wenn sie tatsächlich etwas mit dem Nexus zu tun haben, müssen wir sie ausfindig machen.“ Der Sprecher nickte langsam. „Wir haben unsere besten Agenten entsandt. Aber sie sind nicht die Einzigen, die danach suchen. Der Nebel hat seine eigenen Pläne, und die Bewegungen der Untergrundbewegung erschweren die Lage zusätzlich.“ Die grünlich schimmernde Apparatur begann plötzlich, ein leises Summen von sich zu geben, und die Nadel darin begann zu zittern. Die Anwesenden erstarrten, während der Sprecher sie mit scharfen Augen musterte. „Das bedeutet, dass sich etwas bewegt hat. Die Balance ist im Begriff, vollends zu kippen.“ Die Stadt, oben wie unten, hielt den Atem an.

Hinterlasse einen Kommentar

Erstelle eine Website oder ein Blog auf WordPress.com

Nach oben ↑