Elara Schatten im Nebel Kapitel 12

Die alte Mühle

Die Gruppe bewegte sich durch das dichte Unterholz, jeder Schritt war ein Kampf gegen die feuchte Erde und die überhängenden Äste. Der Nebel war hier dünner, doch seine Anwesenheit war immer noch spürbar, wie ein unsichtbarer Schleier, der sie beobachtete. Kael führte sie an, sein Blick fest nach vorne gerichtet, während die anderen ihm folgten, erschöpft, aber entschlossen. Der Weg war lang und beschwerlich gewesen, doch jetzt schien sich ein Ziel abzuzeichnen. „Wir sind fast da,“ sagte Kael schließlich, ohne sich umzusehen. Seine Stimme war ruhig, aber auch etwas angespannt, als ob er sich nicht sicher war, wie die Gruppe auf das reagieren würde, was sie erwartete.

Elara beschleunigte ihren Schritt, um mit ihm gleichzuziehen. „Ist das der Ort, von dem du gesprochen hast? Deine Zuflucht?“ Kael nickte knapp. „Eine Zuflucht. Sie ist nicht perfekt, aber sie hat mir geholfen, bisher zu überleben.“ Als sie eine natürliche Lichtung erreichten, blieb Kael stehen und deutete mit einer Hand nach vorne. „Da ist es.“ Vor ihnen lag eine alte verlassene Mühle, deren Mauern von Efeu und Moos überwuchert waren. Das hölzerne Mühlrad war zerbrochen und lag schief im Wasser eines kleinen, trüben Baches. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, und der Eingang wirkte, als wäre er seit Jahren nicht benutzt worden. Es war ein unauffälliger Ort, beinahe vergessen, ein Versteck, das auf den ersten Blick nicht mehr als ein Relikt vergangener Tage zu sein schien. Finn war der Erste, der das Schweigen brach. „Das sieht nicht gerade wie eine Festung aus.“ Kael warf ihm einen kühlen Blick zu. „Manchmal ist der beste Schutz, unbemerkt zu bleiben.“ Clara, die Mira an der Hand hielt, musterte die Mühle mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier. „Ist es sicher?“ Kael nickte. „Es hat mich bisher sicher gehalten. Das reicht aus.“ Rurik trat näher an das Gebäude heran, seine Augen nahmen jedes Detail in sich auf. „Die Architektur…“ murmelte er. „Interessant. Die Steine stammen aus einer Zeit, bevor die Stadt entstand.“ Kael zuckte mit den Schultern, als wäre das nicht wichtig. „Vielleicht. Aber es ist nur ein Ort, der Schutz bietet. Mehr nicht.“ Elara spürte, wie sich ein vertrautes Kribbeln in ihrem Nacken ausbreitete.

Es war das Gefühl, das sie oft hatte, wenn sie an einen Ort kam, der Geschichten in seinen Mauern barg. Doch sie sagte nichts, ihre Aufmerksamkeit blieb auf Kael gerichtet. „Und was hast du hier gefunden? Du sagtest, es gibt Hinweise.“ Kael wich ihrem Blick aus und ging stattdessen zur Tür der Mühle. „Das zeige ich euch drinnen. Aber vorher sollten wir sicherstellen, dass wir allein sind.“ Gemeinsam durchsuchten sie die Umgebung, doch es war nichts und niemand zu sehen außer den stillen Bäumen und dem leise plätschernden Bach. Schließlich öffnete Kael die Tür, die überraschend gut in ihren Angeln lag, und führte die Gruppe hinein. Das Innere der Mühle war kühl und dunkel, doch Kael entzündete eine alte Öllampe, die den Raum in ein warmes, flackerndes Licht tauchte. Die Wände waren kahl, bis auf ein paar Holzbretter, die notdürftig befestigt schienen. In einer Ecke lagen einige Decken und Vorräte, die auf längere Aufenthalte hinwiesen. Mira blieb dicht bei Clara, ihre Augen wanderten neugierig durch den Raum.  „Das ist… gemütlich,“ flüsterte sie, offenbar bemüht, die Stille nicht zu stören. Kael ging zu einem kleinen Schrank, öffnete ihn und zog ein ledergebundenes Buch heraus. „Das hier habe ich gefunden, als ich den Ort zum ersten Mal betrat,“ sagte er. Seine Stimme war ruhig, aber seine Haltung wirkte angespannt. „Es ist alt, und ich habe nicht alles verstanden. Aber ich glaube, es könnte wichtig sein.“ Elara trat näher, ihre Augen auf das Buch gerichtet. „Was steht darin?“ Kael zögerte. „Bruchstücke. Über einen Nexus, einen Schlüssel und… eine Prophezeiung.“ Elara spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Warum hast du uns das nicht früher gesagt?“ Kael schloss das Buch und sah sie an, seine Augen kalt und unergründlich. „Weil ich nicht wusste, ob ich euch trauen kann. Und vielleicht weiß ich es immer noch nicht.“ Die alte Mühle war kühl und still, das Innere spärlich beleuchtet von den flackernden Flammen der Öllampe. Während die anderen sich langsam in dem Raum verteilten und die Umgebung untersuchten, sank Elara auf eine der wenigen intakten Kisten und ließ ihren Blick schweifen.

Die karge Einrichtung, die improvisierten Vorratsstapel und die verstaubten Oberflächen erzählten von Jahren der Einsamkeit. Ihre Gedanken wanderten hinaus, zurück zur Lichtung und dem Bild, das sie zuvor gesehen hatte. Sie stellte sich vor, wie die Mühle einst gewesen sein könnte: ein Ort voller Leben, das Mühlrad drehte sich im klaren Wasser des Bachs, während Kinder spielten und Reisende Rast suchten. Die Bäume standen nicht als drohende Silhouetten im Nebel, sondern als einladende Wächter des friedlichen Ortes. Es war schwer vorstellbar, dass dieser Ort jemals so lebendig gewesen sein könnte, doch irgendwo tief in ihrem Inneren fühlte sie, dass es so war. Die Realität war jetzt eine andere. Der Bach war trüb, die Bretter vor den Fenstern ließen kaum Licht hinein, und die Wände schienen von der Stille selbst durchdrungen. Elara spürte eine Schwere, die nicht nur von dem Gebäude ausging, sondern von der Vorstellung, dass Kael diesen Ort allein zu seinem Zuhause gemacht hatte. Er war hier, weit entfernt von der Stadt, von Menschen, von allem, was ein Leben ausmachte. War das wirklich eine Zuflucht, oder nur ein Ort, an dem man vergessen wurde? Sie erinnerte sich an seine kühlen, knappen Antworten, daran, wie wenig er von sich preisgab. Vielleicht, dachte sie, hatte er in der Isolation etwas verloren, das er nicht mehr zurückholen konnte. Ein leises Geräusch ließ Elara aufsehen. Kael stand am anderen Ende des Raumes, sein Rücken zu ihr gewandt, während er eine der Karten betrachtete, die an der Wand hingen. Er wirkte völlig in sich gekehrt, fast wie ein Teil dieses Ortes, verschlossen und doch unübersehbar präsent. Sie fragte sich, wie viele Nächte er hier verbracht hatte, allein mit seinen Gedanken, den Nebel draußen beobachtend, während die Welt um ihn herum zerfiel. Ein leises Flüstern unterbrach ihre Gedanken. Mira stand bei Clara, ihre kleinen Finger hielten sich an der Frau fest, während ihre großen Augen die düsteren Ecken des Raumes betrachteten. „Es ist ein trauriger Ort, nicht wahr?“ fragte Mira leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. Elara nickte langsam, ohne Mira anzusehen. „Ja, das ist er. Aber manchmal sind es gerade die traurigen Orte, die uns helfen, weiterzumachen.“

Sie wusste nicht, ob sie selbst glaubte, was sie sagte, doch die Worte fühlten sich richtig an. Vielleicht war es genau das, was sie alle brauchten – eine Erinnerung daran, dass selbst aus der Einsamkeit etwas entstehen konnte. Clara legte eine Hand auf Miras Schulter und schenkte ihr ein sanftes Lächeln, während Mira weitersprach. „Ich glaube, er war hier sehr allein,“ sagte Mira schließlich, und Elara wusste, dass sie von Kael sprach. „Das war er wahrscheinlich,“ antwortete Clara, ihre Stimme leise. „Aber vielleicht muss er das nicht mehr sein.“ Elara ließ ihren Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen, bevor sie sich erhob und zu Kael ging. Die anderen warteten, und es gab noch so viel zu entdecken. Doch die Vorstellung von Kael in dieser Einsamkeit, umgeben von den Schatten seiner eigenen Vergangenheit, ließ sie nicht los. Sie schwor sich, einen Weg zu finden, ihn aus dieser Isolation zu holen – auch wenn er selbst es nicht wollte. Die alte Mühle war still, abgesehen vom leisen Knarren des Holzes unter ihren Füßen. Kael trat an den Tisch in der Mitte des Raumes, wo eine zerfledderte Karte und einige alte, ledergebundene Bücher lagen. Die Atmosphäre war geladen mit einer Mischung aus Neugier und Beklommenheit. Jeder in der Gruppe wusste, dass dieser Ort etwas mehr bedeutete als nur eine Zuflucht. „Das hier habe ich gefunden, als ich das erste Mal herkam,“ sagte Kael schließlich und deutete auf eines der Bücher. Seine Stimme war ruhig, doch in seinen Augen lag etwas, das Elara nicht deuten konnte – ein Hauch von Zweifel, vielleicht auch von Furcht. Elara trat näher und sah auf das Buch hinab. Der Ledereinband war brüchig, die Ecken abgenutzt, als hätte es viele Hände durch die Jahre hindurch berührt. Die goldene Prägung auf dem Einband war fast vollständig verblasst, aber die Gravuren waren gerade noch erkennbar. Sie zeigte Symbole, die Elara vage bekannt vorkamen, aber sie konnte sie nicht sofort einordnen. „Was ist das?“ fragte sie, ihre Stimme leise, als würde sie die Stille nicht stören wollen.

Kael öffnete das Buch vorsichtig, die Seiten knarrten unter der Bewegung. „Es ist kein gewöhnliches Buch. Es enthält Fragmente von Geschichten, vielleicht Mythen. Ich habe es nicht vollständig verstanden, aber ich glaube, es spricht von einer Prophezeiung.“ „Eine Prophezeiung?“ Clara, die bisher stumm geblieben war, trat mit Mira an ihrer Seite näher. Ihre Augen weiteten sich leicht, und sie sah von Kael zu Elara, als suchte sie Bestätigung für das, was sie gehört hatte. Kael nickte langsam. „Es ist keine klare Erzählung, eher ein Sammelsurium von Andeutungen. Aber es gibt einen Abschnitt, der mich nicht loslässt. Er beschreibt einen Ort, der den Nebel kontrolliert – oder ihn zerstört.“ Elara fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. „Was genau steht da?“ Kael blätterte vorsichtig durch die brüchigen Seiten, bis er an einer bestimmten Stelle innehielt. Er strich mit einem Finger über den Text, bevor er zu lesen begann. Seine Stimme war leise, fast wie ein Flüstern: „Wo die Schleier dünn werden und das Licht verblasst, dort wird der Schlüssel ruhen. Zwei Pfade führen zur Wahrheit: einer ins Verderben, einer zur Befreiung. Doch der Schlüssel verlangt ein Opfer, und die Wahl liegt bei dem, der die Last trägt.“ Die Worte hingen schwer im Raum, und niemand sprach. Elara spürte eine Kälte in ihrem Nacken, als ob der Nebel selbst die Wände durchdrang, um zuzuhören. Sie schloss die Augen und versuchte, die Worte zu verstehen. Der Schlüssel, der Schleier, das Opfer – was bedeutete das alles? „Ein Ort, der den Nebel kontrolliert,“ wiederholte sie schließlich. „Denkst du, dass du diesen Ort kennst?“ Kael hielt inne, sein Blick wanderte von der Seite zu Elara. „Ich bin mir nicht sicher. Manche Beschreibungen passen zu einem Ort, den ich einmal von Weitem gesehen habe. Es gibt nicht genug Hinweise, Aber ich glaube, dieser Ort ist real. Und wenn er existiert, dann könnte er uns die Antworten geben, die wir suchen.“

Rurik, der sich bisher schweigend im Hintergrund gehalten hatte, trat nun vor. Seine Hände waren verschränkt, und seine Stirn war in tiefen Falten gelegt. „Wenn dieser Ort existiert und tatsächlich den Nebel kontrolliert, dann ist er nicht nur ein Schlüssel. Er ist eine Waffe. Und jede Waffe kann in die falschen Hände fallen.“ Elara nickte langsam, ihre Gedanken rasten. Die Prophezeiung war vage, voller Andeutungen, aber sie konnte die Bedeutung nicht ignorieren. Der Schlüssel, das Opfer – es fühlte sich an, als ob ihre Reise erst begonnen hatte, und doch war die Last schon jetzt fast zu schwer. Die Gruppe stand um den Tisch herum, das alte Buch lag zwischen ihnen, seine brüchigen Seiten noch offen an der Stelle, die Kael vorgelesen hatte. Die Worte der Prophezeiung hallten in den Köpfen aller nach, wie ein Echo, das sich nicht abschütteln ließ. „Zwei Pfade, einer ins Verderben, einer zur Befreiung,“ wiederholte Rurik leise, seine Stirn in Falten gelegt. „Aber was bedeutet das konkret? Wie können wir wissen, welchen Weg wir einschlagen?“ Clara verschränkte die Arme vor der Brust, ihre Augen ruhten skeptisch auf dem Buch. „Das klingt alles ziemlich vage. Wie sollen wir überhaupt erkennen, was der Schlüssel ist? Oder das Opfer? Vielleicht ist das alles nur eine alte Geschichte, die nichts mit uns zu tun hat. „Es ist keine Geschichte,“ sagte Kael mit ungewohnter Schärfe in der Stimme. Er sah Clara direkt an, seine Augen dunkel. „Ich habe diesen Ort gesehen. Es gibt Hinweise, dass er real ist. Und der Nebel… er reagiert nicht grundlos auf uns. Auf die Kugel. Auf Mira.“ Mira, die bisher schweigend neben Clara gestanden hatte, zuckte leicht zusammen, als Kaels Worte sie erreichten. Ihre großen Augen blickten unsicher in die Runde, und sie drückte sich dichter an Clara. „Ich wollte das nicht,“ flüsterte sie. „Ich wollte nicht, dass der Nebel kommt.“ Elara kniete sich zu ihr hinunter und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Das hast du nicht getan, Mira. Niemand gibt dir die Schuld. Aber vielleicht bist du ein Teil von etwas Größerem, etwas, das wir noch nicht verstehen.“ „Etwas Größerem,“ murmelte Finn und fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. „Das klingt ja toll. Aber ehrlich gesagt, ich bin nicht scharf darauf, Teil einer Prophezeiung zu sein, die Opfer verlangt. Opfer klingt immer nach Blut und Schmerz.“ „Es könnte auch etwas anderes bedeuten,“ warf Elara ein, obwohl sie selbst unsicher war. „Opfer muss nicht immer den Tod bedeuten. Vielleicht geht es darum, etwas aufzugeben. Oder sich für etwas Größeres einzusetzen.“ Rurik schnaubte leise. „Oder es bedeutet genau das, was wir alle denken. Dass einer von uns sterben muss, um diesen verdammten Nebel loszuwerden.“ Die Worte ließen die Stille schwer auf den Raum fallen.

Elara spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, doch sie zwang sich, den Blick nicht abzuwenden. „Was auch immer es bedeutet, wir müssen es herausfinden. Wenn dieser Ort existiert und wirklich den Nebel kontrolliert, dann könnte er der Schlüssel sein, ihn zu besiegen.“ „Und was, wenn wir den falschen Pfad wählen?“ fragte Clara leise. „Was, wenn wir alles nur schlimmer machen?“ Kael antwortete nicht sofort. Er schloss das Buch, als wollte er die Worte darin versiegeln, und sah dann in die Runde. „Es gibt keine Garantie. Aber wenn wir nichts tun, wird es auch nicht besser. Der Nebel wird sich weiter ausbreiten, und die Schatten werden kommen. Wenn wir eine Chance haben, das zu stoppen, dann müssen wir sie ergreifen.“ Die Gruppe schwieg, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Elara betrachtete Kael, der wieder zu den Karten an der Wand zurückgekehrt war. Er schien entschlossen, doch auch in ihm musste Unsicherheit sein. Sie konnte es in der Art sehen, wie seine Schultern leicht angespannt waren, wie seine Finger über die Karte glitten, als könnte er eine Antwort darauf ertasten. „Also gut,“ sagte Rurik schließlich, seine Stimme rau. „Wenn wir diesen Ort finden wollen, brauchen wir mehr Informationen. Vielleicht gibt es in diesen Ruinen, die du erwähnt hast, etwas, das uns weiterhilft. Aber ich sage es euch gleich: Ich traue keiner Prophezeiung, die uns nicht sagt, was wir verlieren werden.“ „Vielleicht sollten wir uns weniger darauf konzentrieren, was wir verlieren, und mehr darauf, was wir gewinnen können,“ warf Elara ein. Ihre Stimme war ruhig, doch in ihrem Inneren tobte ein Sturm. „Wenn diese Prophezeiung wahr ist, dann liegt es an uns, sie zu deuten. Und egal, wie viel Risiko damit verbunden ist – es ist besser als stillzustehen.“ „Du sagst das so leicht,“ entgegnete Clara, ihre Stirn in Sorgenfalten gelegt. „Aber was, wenn das Opfer nicht nur einer von uns ist? Was, wenn wir etwas tun, das allen schadet?“ Kael, der bisher geschwiegen hatte, drehte sich langsam zu ihnen um. „Die Prophezeiung spricht von zwei Pfaden. Das bedeutet, es gibt eine Wahl. Und jede Wahl bedeutet Risiko. Aber das Risiko, nichts zu tun, ist größer. Der Nebel wird nicht aufhören.“ Finn schüttelte den Kopf, seine Hände in die Hüften gestemmt. „Wissen wir überhaupt, wie wir den richtigen Weg erkennen sollen? Es klingt, als müssten wir blind darauf vertrauen, dass wir es irgendwie richtig machen.“ „Vielleicht nicht blind,“ sagte Rurik nachdenklich. Er deutete auf das Buch. „Vielleicht gibt es in diesem Buch noch mehr, was uns helfen kann. Oder an dem Ort, den Kael erwähnt hat. Wir sollten das nutzen, was wir haben, bevor wir Entscheidungen treffen.“ Die Gruppe nickte zögerlich. Es war keine perfekte Antwort, aber es war ein Anfang.

Die Diskussion ebbte ab, doch die Worte der Prophezeiung schwebten weiterhin unausgesprochen im Raum, wie ein Schatten, der nicht verschwand. Rurik schob den Stuhl zurück und erhob sich mit einem leisen Knarren des alten Holzes. Die Gruppe folgte ihm mit den Augen, als er sich umblickte und die Mühle mit einem forschenden Blick musterte. „Wenn diese Prophezeiung hier entdeckt wurde,“ sagte er schließlich, „dann könnte es noch andere Hinweise geben. Vielleicht hat dieser Ort mehr Geheimnisse, als wir denken.“ Kael nickte knapp. „Es gibt ein paar Ecken, die ich nicht genauer untersucht habe. Ich habe mich mehr auf den Schutz konzentriert als auf… Antworten.“ „Dann wird es Zeit, dass wir das nachholen,“ murmelte Rurik und nahm eine kleine Laterne vom Tisch. Die Flamme flackerte, als er das Licht auf die Wände richtete. Er begann systematisch, die Steine und das Holz zu untersuchen, klopfte an bestimmten Stellen und lauschte dem Widerhall. Elara trat zu ihm, ihr Blick aufmerksam. „Was suchst du genau?“ „Alles, was nicht hierhergehört,“ antwortete er knapp. „Ein Symbol, ein versteckter Mechanismus, irgendetwas, das uns sagt, warum diese Prophezeiung ausgerechnet in diesem Ort aufbewahrt wurde.“ Die anderen beobachteten schweigend, während Rurik weiterging. Seine Hände glitten über die rauen Oberflächen der Wände, seine Finger tasteten nach Unregelmäßigkeiten.

Schließlich hielt er an einer Ecke inne, in der die Steine dunkler wirkten als der Rest. „Hier,“ murmelte er und beugte sich vor. Seine Finger fanden eine kleine Vertiefung, fast wie ein eingeritztes Muster. Mit der Laterne beleuchtete er die Stelle genauer, und die Linien begannen im warmen Licht zu schimmern. Es war ein Symbol – ein Kreis mit einem gebrochenen Strich, umgeben von winzigen, fast unsichtbaren Runen. „Das habe ich hier noch nie gesehen,“ sagte Kael und trat näher. „Es war unter all dem Staub verborgen.“ „Was bedeutet es?“ fragte Finn, der sich neugierig vorbeugte. „Ist das Teil der Prophezeiung?“ Rurik runzelte die Stirn. „Ich bin mir nicht sicher. Aber dieses Symbol… es kommt mir bekannt vor. Es könnte eine Verbindung zu alten Schutzmechanismen haben. Oder zu einer Art Energiequelle.“ Elara kniete sich neben ihn und betrachtete die Gravuren eingehend. „Diese Runen… ich habe sie in Ruriks Notizen gesehen. Sie sind alt. Sehr alt. Vielleicht älter als die Mühle selbst.“ Mira, die bisher still geblieben war, näherte sich zögernd. Ihre großen Augen waren auf das Symbol fixiert, und sie wirkte wie in Trance. „Es fühlt sich… warm an,“ flüsterte sie. Rurik richtete sich auf und betrachtete das Mädchen mit zusammengekniffenen Augen. „Du spürst etwas?“ Mira nickte, ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „Es ist wie… ein Lied. Ganz leise. Aber schön.“ Die Gruppe tauschte besorgte Blicke, während Rurik erneut auf das Symbol sah. „Das ist kein Zufall,“ sagte er schließlich. „Dieser Ort hat etwas Besonderes an sich. Und Mira scheint eine Verbindung dazu zu haben.“ Elara legte eine Hand auf Miras Schulter und lächelte aufmunternd. „Vielleicht können wir mehr herausfinden, wenn wir weiterforschen. Es könnte uns helfen zu verstehen, was uns erwartet.“ Rurik nickte und begann, die Gravuren weiter freizulegen. Währenddessen flüsterte er etwas vor sich hin, Worte, die in einer alten Sprache zu sein schienen. Das Symbol begann, schwach zu glühen, und ein leises Summen erfüllte den Raum. „Das… ist neu,“ sagte Finn, seine Augen weit aufgerissen. „Ist das normal?“ „Nein,“ antwortete Rurik knapp. „Aber es ist ein Anfang.“ Kael trat näher, seine Augen auf die leuchtenden Linien fixiert. „Es könnte der Schlüssel sein, den wir brauchen, um die Prophezeiung zu entschlüsseln. Oder zumindest der erste Schritt.“ „Wenn es so ist, sollten wir vorsichtig sein,“ warnte Clara, die einen Schritt zurücktrat. „Was auch immer das ist, es könnte mehr sein, als wir verstehen.“

Das Summen wurde lauter, ein tiefer, vibrierender Klang, der durch den Raum drang. Plötzlich löste sich ein Teil der Wand mit einem dumpfen Knirschen und gab den Blick auf einen verborgenen Durchgang frei. Die Gruppe starrte schweigend auf die Dunkelheit, die dahinter lag, als ob sie selbst ein Geheimnis hütete. „Da ist etwas,“ sagte Elara leise, ihr Herz schlug schneller. „Das ist der nächste Schritt.“ „Oder die nächste Falle,“ murmelte Rurik, doch er nahm die Laterne und trat vor. „Wie auch immer, wir werden es herausfinden.“ Die Gruppe sammelte sich, und einer nach dem anderen traten sie in den Durchgang. Das Licht der Laterne tanzte an den Wänden, und das Summen wurde mit jedem Schritt intensiver. Sie wussten, dass sie auf etwas Entscheidendes zugingen – etwas, das ihre Reise für immer verändern würde. Elara spürte, wie eine seltsame Schwere den Raum erfüllte, als die Gruppe tiefer in den Durchgang eintrat. Die Luft war kühl und roch nach feuchtem Stein, doch es war mehr als nur das. Es war, als ob der Raum selbst lebendig war, beobachtete, lauschte. Ihre Schritte hallten in der Stille wider, und mit jedem Schritt wurde das Summen intensiver, ein pulsierender Rhythmus, der tief in ihrem Inneren zu vibrieren schien. Sie hielt inne und legte eine Hand an die Wand, die seltsam warm unter ihren Fingern war. Für einen Moment schien die Welt um sie herum zu verschwimmen, die Stimmen der anderen wurden zu einem fernen Murmeln, und das Summen schien zu einem flüsternden Chor zu werden. Sie schloss die Augen, und die Dunkelheit hinter ihren Lidern wurde von Licht durchbrochen. Bilder stürmten auf sie ein, undeutlich und doch eindringlich: Eine gewaltige, leuchtende Sphäre schwebte inmitten eines endlosen Raumes, umgeben von wirbelnden Schatten, die nach ihr griffen, sie umkreisten wie Raubtiere ihre Beute. In der Ferne erkannte sie eine Silhouette – eine Gestalt, die von einem dunklen, pulsierenden Licht umgeben war.

Sie wirkte sowohl vertraut als auch fremd, und Elara spürte eine unbegreifliche Mischung aus Angst und Hoffnung. „Elara,“ flüsterte eine Stimme, und sie war sich nicht sicher, ob sie aus ihrem Kopf oder aus der Vision kam. Es war dieselbe Stimme, die sie am Altar gehört hatte, ruhig und doch voller Macht. „Du trägst den Schlüssel, doch der Weg ist nicht einfach. Wähle mit Bedacht.“ Plötzlich war da ein Ruck, ein Gefühl, als würde sie aus der Vision gerissen. Sie öffnete die Augen und keuchte, während sie sich an der Wand abstützte. Die anderen hatten angehalten und sahen sie an. Kael trat näher, seine Stirn gerunzelt. „Was ist los? Was hast du gesehen?“ Elara holte tief Luft und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. „Etwas… etwas Großes. Es war wie eine Warnung. Oder ein Hinweis. Aber ich verstehe es noch nicht.“ „Du sahst etwas?“ fragte Rurik, seine Stimme vorsichtig, doch seine Augen zeigten ein aufflammendes Interesse. „Was genau?“ Sie zögerte, suchte nach den richtigen Worten. „Eine Sphäre. Sie war umgeben von Schatten, aber sie leuchtete. Und… da war jemand. Eine Gestalt. Sie wirkte… wichtig.“ Finn hob eine Augenbraue. „Wichtig? Wie wichtig? ‚Retten-uns-alle‘-wichtig oder ‚Macht-uns-alle-tot‘-wichtig?“ „Ich weiß es nicht,“ gab Elara zu und schüttelte den Kopf. „Aber es fühlte sich an, als würde alles davon abhängen, was wir tun.“ „Das klingt nicht gerade beruhigend,“ murmelte Clara, doch ihre Augen zeigten mehr Neugier als Furcht. Das Summen um sie herum schien auf einmal tiefer zu werden, fast wie ein Herzschlag, der sich verlangsamte. Die Wände vibrierten leicht, und dann passierte es: Eine weitere Gravur begann an der gegenüberliegenden Wand zu glühen, ihre Linien formten ein komplexes Muster, das sich langsam ausbreitete. Mira trat zögernd näher, ihre Augen groß und furchtsam. „Es… es fühlt sich warm an,“ flüsterte sie, ihre Stimme kaum hörbar. Sie legte ihre kleine Hand vorsichtig gegen die glühenden Runen und schloss die Augen. „Es singt. Ganz leise.“ Clara beobachtete Mira schweigend, ihre Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. Was meinte das Mädchen? War das nur kindliche Fantasie oder spürte Mira tatsächlich etwas, das die anderen nicht wahrnehmen konnten? Clara wusste keine Antwort, doch die Frage ließ sie nicht los. „Es reagiert auf uns,“ sagte Rurik leise, fast ehrfürchtig. „Oder vielleicht auf Mira… oder dich, Elara.“ Elara spürte, wie ihre Finger zitterten, während sie die Hand von der Wand nahm. „Was auch immer es ist, es führt uns. Aber wohin?“ „Das werden wir herausfinden,“ sagte Kael, seine Stimme ruhig und entschlossen. Er hob die Laterne höher, das Licht tanzte an den Wänden. „Aber wir sollten vorbereitet sein. Was auch immer uns erwartet, es wird uns nicht einfach passieren lassen.“ Die Gruppe setzte ihren Weg fort, doch Elara konnte das Bild der leuchtenden Sphäre und der Silhouette nicht abschütteln. Es war, als hätte die Vision ihr etwas aufgetragen, eine Bürde, die sie noch nicht ganz verstehen konnte. Doch eines wusste sie: Der Weg, den sie eingeschlagen hatten, war nicht mehr zu ändern.

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